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Melanie Leonhard
1 Einleitung
Bilderbücher «bilde[n] – wenigstens dem bürgerlichen Bildungsverständnis nach
– die literarästhetische Substanz des protoliteralen1 Schriftspracherwerbs» (Ritter
& Ritter, 2015, S. 127).2 Die ematisierung dieser literarischen Gattung im Rah-
men des Studiums zur Kindergarten-/Unterstufenlehrperson ist daher in hohem
Masse nachvollziehbar. Wie diese ematisierung im Rahmen einer Lehrveran-
staltung jedoch erfolgt, bildet den zentralen Gegenstand dieser Untersuchung. Mit
der Figur der Wissensordnung versuche ich, die situative Entstehung des ‹richti-
gen› und wichtigen Wissens in der Lehrveranstaltung nachzuvollziehen, und dabei
den engen Zusammenhang von Wissen und Macht (Foucault, 1992 [1975], S. 33)
in der Lehrveranstaltung in Rechnung zu stellen. Als «Partizipanden» bezeichnet
Hirschauer (2016, S. 52) «alle Entitäten, die in den Vollzug einer Praktik invol-
viert sind». Neben den menschlichen Partizipanden, hier einer Dozentin und den
Studierenden an einer Institution der Lehrer:innenbildung in der Deutschschweiz,
werden im Beitrag zwei Artefakte zur Lehrveranstaltung untersucht, die auch als
Ausdruck einer spezischen Wissensordnung verstanden und analysiert werden.
Auch wenn an den Praktiken der Lehrveranstaltung eine Reihe weiterer materi-
eller Partizipanden beteiligt ist, wird im Beitrag auf die fachbezogenen Artefakte
fokussiert, die zusammen mit dem Interaktionsgeschehen als Ausdrucksgestalten
der fachlichen Wissensordnung untersucht werden. Neben der Rekonstruktion die-
ser fachlichen Ordnung selbst wird im Anschluss an die übergeordnete Fragestel-
lung des TriLAN-Projekts nach den Prozessen des Lehrer:in-Werdens herausge-
arbeitet, welche fachbezogenen Selbstverhältnisse den Studierenden als zentralen
Adressat:innen der Lehre im Fach Deutsch nahegelegt werden.
Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Nach einer theoretischen Orientierung in Ab-
schnitt 2, die zum einen die Untersuchungsperspektive der fachlichen Wissens-
ordnung vertieft darstellt und zum anderen den aktuellen Stand des Diskurses zu
Kinderbilderbüchern skizziert, wird in Abschnitt 3 das Datenset kontextualisiert
und das methodische Vorgehen konkretisiert. In Abschnitt 4 rekonstruiere ich
zunächst zwei Artefakte, die als Materialien zur Lehrveranstaltung existieren und
dann zentrale Ausschnitte der Lehrveranstaltungsinteraktionen. In Abschnitt 5
werden die Ergebnisse auf drei Ebenen bilanziert: Es wird zum einen herausgear-
1 Es wird zwischen Protoliteralität und Protoliterarität unterschieden: «Protoliterale und protoliterare
Lernprozesse sind somit durch die Rezeption von Kinderliteratur initiierte und im Medium der
Mündlichkeit stattndende Lernprozesse, die auf einer inhaltlich-kulturellen (= protoliterar) oder
sprachlich-formalen Ebene (= protoliteral) situiert werden können» (Uhl, 2021, S. 186).
2 Inwiefern Bilderbücher damit auch Objekte eines implizit klassistischen (El-Mafaalani, 2023,
S.42–45.) Bildungssystems sind, wird im Beitrag nicht weiter vertieft. Aber sowohl die Dieren-
zierung des «bürgerlichen Bildungsverständnis[ses]» (Ritter & Ritter, 2015, S. 127), als auch die
Hypothese einer «sprachliche[n] Verarmung bildungsferner Kinder vor Fernseher und Spielkonso-
le» (Hering, 2016, S. 108) verweisen darauf, dass sich eine solche Untersuchung lohnen könnte.
doi.org/10.35468/6161-05