Selbstverwaltung und Sozialismus
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Der historische Kontext der pädagogischen eorie und Praxis der 1923 – un-
ter Beteiligung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB), der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Arbeiterwohlfahrt, dem
Verband sozialdemokratischer Lehrer und Lehrerinnen Deutschlands, der Sozi-
alistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) und der Arbeitsgemeinschaft der Berliner Kin-
derfreunde – gegründeten RAG ist ein besonderer (Eppe, 2008, S. 163): Von
staatlich-jugendpegerischer und schulischer über die partei- und sportverband-
liche bis hin zur konfessionellen Seite gab es in der Weimarer Republik einen
starken, zumeist steuernden Zugri auf Kinder und Jugendliche. Überdies be-
mühten sich zahlreiche Bünde und Gruppierungen, vielfach entstanden aus der
Wandervogelbewegung des späten 19. Jahrhunderts, um die Gunst der jungen
Menschen. In dieser „Phase der breiten Entfaltung modernen Jugendlebens und
moderner Jugendkultur“, so Winfried Speitkamp (1998, S. 162), galten Kindheit
und Jugend nicht bloß als Lebensabschnitte, die durch das Alter vom Erwach-
senensein abgegrenzt werden konnten. Vielmehr wurden in der Konstruktion
von Kindheit und Jugend verschiedene, teilweise konigierende zeitgenössische
emen verhandelt: krisenbehaftete Bevölkerungsdiskurse, soziale Abstiegsängste
sowie Aufstiegsoptionen, die Pluralisierung und Ausdierenzierung von gesell-
schaftlicher Teilhabe und Lebensstilen. Kindheit und insbesondere Jugend waren
dabei Mahnungen und Mythisierungen gleichermaßen ausgesetzt. Sie galten als
„Inbegri von Aufbruch, Dynamik und Fortschritt“ einerseits, als noch zu for-
mende Zielgruppe von Disziplinierungs- und Ordnungsmaßnahmen andererseits
(Stambolis, 2023, S. 26, 35).
Der Ansatz der RAG war ein anderer: Es ging nicht nur um die „Verbesserung
der Erziehung und der Lebensumstände“ (Schwitanski, 2012, S. 136), sondern
auch um die Ermächtigung von Arbeiterkindern bis 14 Jahren – für die Älteren
war bereits 1922 die SAJ gegründet worden – zu mündigen, politischen, (sozi-
al-)demokratischen Bürger:innen. Dem autoritären Obrigkeitsstaat wurden die
Verantwortung der Gemeinschaft, freiwillige Wahlen und Vertrauensaufträge ge-
genübergestellt (Löwenstein, 1924, S. 44f.) und betont: „Wir brauchen gegen-
über der langjährigen, durch Generationen hindurchgehenden obrigkeitlichen
Bevormundung ein starkes Unterstreichen dieser Formen der Selbstverwaltung“
(Löwenstein, 1924, S. 47f.). Ein solcher organisatorischer Zusammenschluss jun-
ger Menschen unter 18 Jahren mit einem dezidiert politischen Zweck war im
Kaiserreich laut Reichsvereinsgesetz noch verboten. Erst in der Weimarer Repu-
blik konnte er – trotz vielfacher Konkurrenz und auch Anfeindungen etwa von
kirchlicher oder politisch-konservativer Seite – gedeihen (Eppe, 2008, S. 185f.).
Knapp zehn Jahre nach Gründung der RAG – und kurz vor dem Verbot aller
sozialdemokratischen Organisationen im Juni 1933 – gab es (schätzungsweise)
weit über 1.000 Ortsgruppen mit rund 120.000 Kindern, 10.000 Helfer:innen
und 70.000 Mitgliedern in den Elternvereinen (Eppe, 2008, S. 165). Als Erzie-
doi.org/10.35468/6162-07