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Kompetenzen, das man im Deutschen „Bildung“ zu nennen sich gewöhnt hat und das in-
ternational „education“ heißt. Es handelt sich um eine Gebietsbezeichnung –Bildung ist
ein Kontinent neben Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur und Kommunikation.
Wenn junge Menschen sich aus den gesellschaftlichen Ordnungen ausklinken, in
virtuelle Welten ausweichen, gewalttätig oder gleichgültig, fundamentalistisch oder fa-
schistisch werden, und wenn die Erwachsenen ihre Vorbildrolle und Verantwortung aus-
schlagen, wenn sie geschichtslos und bindungslos zu leben für ein Ideal halten, wird der
Ruf nach „Rückkehr zur Erziehung“, das Lob der „herkömmlichen Werte“, die Forde-
rung nach Strenge und Ordnung laut. Werlange genug gelebt hat, weiß, dass das gera-
dezu periodisch geschieht.
Gegenwärtig sind es die Bücher und Auftritte von Eva Herman (2006), Bernhard
Bueb (2006; 2008) und Michael Winterhoff(2008), die den Pädagogen zeitgerecht und
wenig originell vorhalten, was man seit eh und je weiß –sorgfältig begründet von Ly-
kurgbis Ignatius, von Herbart bis Giesecke! Aber solange es um „Werte“ vs. „Be-
liebigkeit“, „Kuschelpädagogik“ vs. „Zucht und Ordnung“, „Führen“ vs. „Geschehen-
lassen“, „Summerhill“ vs. „boot-camp“ geht, ficht man einen buchstäblich oberflächli-
chen Streit aus, dessen Argumente sich vornehmlich aus der Karikatur des jeweiligen
Gegners nähren. Nur wenn auch die unterschiedlichen Grundannahmen und die unter-
schiedlichen Ziele ins Feld geführt werden, lohnt sich die Auseinandersetzung. Die
Wahl der dann jeweils geeigneten Verfahren ergibt sich fast von selbst.
Man könnte auch sagen: Erst müssen wir uns der Bedeutung des Wortes „Erziehung“
vergewissert haben, bevor wir uns über eine Rückkehr zu ihr verständigen und die Fol-
gen beurteilen können. Dieser Anstrengung liegt die Vermutung, nein, die intuitive Ge-
wissheit zugrunde, dass der Erziehung genannte Vorgang selbst ein Ethos hat,andas der
Erzieher streng gebunden ist.1
Als Lessing von der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (1979) sprach, umfasste
das Wort alle den Menschen formenden, auf dem Wegzur Vervollkommnung förderli-
chen Erlebnisse und Erkenntnisse. Er legte ja die Weltgeschichte als den Erziehungs-
plan Gottes für uns aus, und die bedient sich sämtlicher Mittel, tut ihre Wirkung glei-
chermaßen durch Entwicklung und Aufzucht, Belehrung und Erfahrung, Personen und
Einrichtungen, natürliche und gewollte Ereignisse. Heute spricht man von „Erziehung“,
um diese von Bildung und Ausbildung abzusetzen und verteilt die drei auf verschiedene
Personen und Instanzen.
Ist mit „Rückkehr zur Erziehung“ eine Aufhebung der Trennung gemeint oder eine
Umverteilung? Wer, wie ich, die Unterscheidung zwar für gedanklich nützlich, aber für
praktisch untunlich, ja undurchführbar hält, sucht nach einem Begriff, der verhindert,
dass die Unterscheidung auch zu Trennung führt. Einstweilen behelfe ich mir mit dem
Wort „Pädagogik“. Eine sichere Verständigung erziele ich damit nicht.
„Erziehung“ bleibt an der Zivilisierung des Struwwelpeter,ander Bändigung des ar-
gen Friederich, an der Festigung des verführbaren Paulinchen und all ihrer heutigen un-
1Sowie die Wissenschaft eines hat, wie man bei Karl Jaspers (1955) lernt, der ihr darum als
solcher schon so etwas wie pädagogische Wirkungen zuschreibt.