»Und ob.«
»Hat er sie sich bewahrt?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Selan. »Mein Spezialgebiet ist der Überlebensinstinkt, die
Frage, über welche Ausdauer die Angehörigen verschiedener Spezies verfügen, wenn ...«
»Ja, ja.« Turo gestikulierte ungeduldig. »Aber was ist mit den subtileren Elementen
moralischen Verhaltens?«
»Ich bin Wissenschaftler, kein Philosoph.«
»Nun ...« Turo lächelte unheilvoll. »Halten Sie das Bemühen, den eigenen Horizont zu
erweitern, nicht für erstrebenswert?«
Selan dachte darüber nach. »Was schlagen Sie vor?«
Nummer Acht lebte in einer Welt der Finsternis. Finsternis herrschte nicht nur in seiner
Zelle, sondern auch in seiner Seele.
Irgendwann einmal, vor langer Zeit, hatte es Licht gegeben. Er zweifelte kaum daran. An
Einzelheiten erinnerte er sich nicht, nur an die damit einhergehende Empfindung. Sein
tiefstes Inneres barg das vage Wissen um eine Zeit, in der er mehr gewesen war als jetzt.
Jetzt gab es kein Licht mehr, nur noch Feuer. Feuer im Bauch, hinter den Augen, in seiner
Seele. Feuer, das ihn verbrannte und das ihn antrieb, auch wenn der Instinkt nach einem Ende
verlangte.
Er war vollkommen verdreckt, denn die anderen hatten ihm nie eine Möglichkeit gegeben,
sich zu waschen oder gar zu baden. Er
stank. Das lange Haar und der ungestutzte Bart bildeten ein struppiges, verfilztes
Durcheinander. Rissige Fingernägel wiesen darauf hin, daß er sie immer wieder abgebissen
hatte. Er trug die zerfetzten Reste einer Uniform, die ihm einst viel bedeutet hatte.
Die während der letzten Folterung verursachten Wunden waren inzwischen verheilt, und er
spürte auch nicht mehr den Schmerz, den die Elektroden der vergangenen Woche verursacht
hatten. Ganz deutlich erinnerte er sich an das Metall überall an seinem Körper, an den
Fingern, an der Brust, an den Genitalien. Und dann die Elektrizität. Die eigenen Schreie - so
ohrenbetäubend laut, daß er zunächst glaubte, sie stammten von einem anderen Ort, an dem
ein armer Teufel schrecklich leiden mußte, ja, und wie bedauerlich, daß er ihm nicht helfen,
überhaupt nichts für ihn tun konnte.
Als er schließlich begriff, daß die Schreie aus dem eigenen Mund kamen, waren die anderen
bereits mit ihm fertig und warfen ihn wieder in seine Zelle, wie ein Bündel Lumpen. Die
ganze Zeit über machte sich ein grauhaariger Mann mit spitzen Ohren Notizen, nickte immer
wieder und murmelte Bemerkungen wie »Beeindruckend«, »Gut« und »Ja«. Seltsam. Jemand,
der Komplimente machte. Normalerweise stellten Komplimente etwas Positives dar. Etwas,
über das man sich freuen konnte. Doch der Grauhaarige in der Dunkelheit vermittelte keine
Freude. Nein, ganz und gar nicht.
Der Mann zuckte unwillkürlich zusammen, als ihm ein seltsamer Geruch entgegen wehte. Er
schnüffelte und erinnerte sich vage an etwas, das einen großen Reiz ausübte ...
Ja. Er roch es erneut, etwas deutlicher diesmal. Die Quelle des Aromas näherte sich seiner
Zelle und weckte Erinnerungen an eine andere Zeit, ein anderes Leben.
Es handelte sich um den Geruch von gebratenem Fleisch.
Der Mann entsann sich nicht mehr daran, wann er zum letzten Mal ein dickes, saftiges Steak
genossen hatte, das einem auf der Zunge zerging. Der Duft berührte nicht den modernen,
zivilisierten Menschen in ihm, sondern das Erbe der prähistorischen Ahnen, die am Feuer
saßen und Fleisch brieten. (Was für sie ein völlig neues Konzept darstellte. Bisher hatten sie
es einfach von den Knochen erlegter Tiere gerissen und roh verschlungen. Der Gefangene
hätte nicht gezögert, eine entsprechende Möglichkeit zu nutzen, selbst wenn er imstande
gewesen wäre, einen klaren Gedanken zu fassen.)
Gebratenes Fleisch. Seit einer Ewigkeit ernährte er sich nur von fast geschmacklosem Brei.
Die Tür öffnete sich, und der Duft gewann solche Intensität, daß er den Gefangenen beinahe
in den Irrsinn trieb.
Und dann wurde etwas in den Raum geschoben.
Eine Frau.
Ihr Erscheinungsbild stieß ihn nicht ab. Solche Dinge spielten für ihn keine Rolle mehr. Sie