
Schäfer: Alterität: Grenzen des pädagogischen Selbstverständnisses 707
Alterität, die Andersheit des Anderen, scheint so am Anfang pädagogischen Denkens
zu stehen. Der ‚natürliche Mensch‘ Rousseaus ist ein Wilder, ein auf keine Sozialität an-
gewiesenes Wesen: Er ist ein Tier, das insofern mit sich identisch ist, als im Hinblick auf
seine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung Wollen und Können in problemloser Über-
einstimmung sein sollen. Und auch das Kind ist bei der Geburt ein solcher Wilder. Und
es dauert lange, bis es sich den gesellschaftlichen Erfordernissen angepasst hat. Das liegt
für Rousseau daran, dass Kinder anders sind, dass sie keine kleinen Erwachsenen sind,
sondern auf eine fremdartige Weise sich die Welt erschließen. Auch auf dieser Ebene
taucht also die Andersheit des Anderen wieder auf. Pädagogik muss diese Andersheit
berücksichtigen. Sie gewinnt aus der ‚Natur‘ des Menschen ihren Maßstab und aus der
Andersheit des Kindes ihre Kriterien für die Gestaltung des pädagogischen Prozesses, in
dem die Andersheit innerhalb der und gegen die sozialen Normalitätserwartungen erhal-
ten werden soll: der Pädagoge als Anwalt und zugleich als Ermöglicher einer ausgebilde-
ten Andersheit, die als solche im Prozess des Aufwachsens ansonsten verloren geht. Der
Wilde soll zivilisiert werden und dabei zugleich nicht nur ein Wilder bleiben, sondern
ein Wilder, dem man zur Möglichkeit seiner Wildheit unter gesellschaftlichen Bedin-
gungen verholfen hat. Der zivilisierte Wilde ist ein Anderer, der aus der Perspektive sei-
ner vergesellschafteten Mitmenschen anders bleibt.
Damit allerdings der Pädagoge diese Aufgabe verantwortlich übernehmen kann,
muss er die Andersheit bestimmen: Er muss sie in Eigenheit verwandeln. So geht Rous-
seau davon aus, dass er die ‚menschliche Natur‘ zumindest formal bestimmen kann: als
Postulat einer Identität mit sich selbst. Weiterhin begnügt er sich nicht mit der bloßen
Feststellung einer Andersheit des Kindes, sondern konkretisiert diese, indem er Ent-
wicklungsstadien unterscheidet und für diese die jeweilige Qualität des möglichen
Weltumgangs bestimmt. Das ‚Wilde‘, die Fremdheit gegenüber der Gesellschaft, ist eine
bestimmte, eine identifizierte Andersheit – und damit etwas, um das man wissen kann.2
Diese Zurücknahme einer unberechenbaren Wildheit, einer mit sozialen Kategorien
nicht zu erfassenden Andersheit in eine identifizierte Fremdheit, die man dem (ent-
fremdeten) Eigenen als authentisches Eigenes gegenüberstellen kann, ist die Bedingung
dafür, dass der Prozess des Aufwachsens einer pädagogisch intentionalisierten Steue-
rung und Verantwortung zugewiesen werden kann. Am Beginn der modernen Pädago-
gik steht also nicht die unzugängliche Andersheit des Anderen, sondern diese Anders-
heit gewinnt eine eher strategische Bedeutung für die Ausdifferenzierung einer pädago-
gischen Reflexion, die Andersheit zu ihrem Legitimations- und Bezugspunkt macht.
Weil Kinder anders sind als Erwachsene, weil die selbstverantwortliche Person jenseits
2 Die Andersheit des Anderen am Kind zu exemplifizieren, bedeutet bereits eine Konkretisierung,
eine verortende Bestimmung der Alterität, die deren Charakter zumindest in Frage stellt: zumin-
dest aber seine Aufhebung wahrscheinlich macht. Rousseau braucht daher die ‚Natur des Men-
schen‘ als Bezugspunkt, um das Kind als empirische Inkarnation dieser ‚Natur‘ vorführen zu kön-
nen. Fasst man die Andersheit des Anderen als das, worüber sich nichts sagen lässt, ohne es seines
Charakters zu berauben, so bedeutet jede Konkretisierung dieser Alterität schon den Ansatz zu ih-
rer Auflösung: Die Andersheit einer bestimmten Personengruppe ist immer schon Resultat einer
Ver-Fremdung oder zumindest ein Erkenntnisprogramm.