Engelmann_2025_Zwischen_revolutionaerer_Erfahrung

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Engelmann, Christina
Zwischen revolutionärer Erfahrung und autoritativer Parole. Clara Zetkin über
das sowjetische Bildungssystem (1917-1926)
Engelmann, Christina [Hrsg.]; Haberkorn, Tobias [Hrsg.]; Miethe, Ingrid [Hrsg.]: Proletarische Pädagogik.
Verhältnisbestimmungen, historische Experimente und Kontroversen sozialistischer Bildungskonzepte. Bad
Heilbrunn : Verlag Julius Klinkhardt 2025, S. 94-122
Quellenangabe/ Reference:
Engelmann, Christina: Zwischen revolutionärer Erfahrung und autoritativer Parole. Clara Zetkin über das
sowjetische Bildungssystem (1917-1926) - In: Engelmann, Christina [Hrsg.]; Haberkorn, Tobias [Hrsg.];
Miethe, Ingrid [Hrsg.]: Proletarische Pädagogik. Verhältnisbestimmungen, historische Experimente und
Kontroversen sozialistischer Bildungskonzepte. Bad Heilbrunn : Verlag Julius Klinkhardt 2025, S. 94-122
- URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-328932 - DOI: 10.25656/01:32893; 10.35468/6162-05
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-328932
https://doi.org/10.25656/01:32893
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Christina Engelmann
Zwischen revolutionärer Erfahrung und
autoritativer Parole. Clara Zetkin über das
sowjetische Bildungssystem (1917-1926)
I
n ihrem Referat „Der Kampf gegen den Faschismus“ gibt Clara Zetkin bereits
1923 eine präzise und auch für die gegenwärtigen Entwicklungen aufschluss-
reiche Analyse der Gründe für den Aufstieg faschistischer Kräfte in Europa. Sie
analysiert dabei zum einen die sozialen und ökonomischen Faktoren – die tief-
greifende Krise der kapitalistischen Wirtschaft infolge des Ersten Weltkriegs,
die eine „ungeheuerliche Verelendung des Proletariats“ und eine drastische Ver-
schlechterung der Lebensbedingungen eines immer breiteren Spektrums der Ge-
sellschaft zur Folge hatte (Zetkin, 1960a, S. 693f.). Für sich genommen konn-
ten diese materiellen Bedingungen jedoch noch nicht erklären, weshalb sich die
proleta
risierte Bevölkerung nicht der Arbeiter:innenbewegung anschloss, sondern
den Faschisten. Zetkin betonte deshalb zum anderen die politischen und aektiv-
ideologischen Gründe für deren zunehmende Anziehungskraft: Die sozialisti-
schen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen, die zuvor für eine revolutionäre
Veränderung der überkommenen Eigentums- und Machtverhältnisse eingetreten
waren, schreckten demnach zusehends selbst vor der Möglichkeit einer anderen
Gesellschaftsordnung zurück und beschränkten sich entsprechend immer mehr
auf die Verwaltung der bestehenden Verhältnisse. Damit aber gehe auch unter
den Arbeiter:innen „das Vertrauen auf das Proletariat als gesellschaftsumwälzende
Klasse“ (Zetkin, 1960a, S. 696) verloren. Vor diesem Hintergrund konnte es den
faschistischen Kräften gelingen, die wachsende Existenzunsicherheit innerhalb
der Bevölkerung und das Gefühl politischer Ohnmacht für sich zu vereinnahmen
und durch „scheinrevolutionäre Forderungen“ (Zetkin, 1960a, S. 702) eine breite
Anhänger:innenschaft zu gewinnen – während vorgeblich „im faschistischen Staat
das Interesse der Nation über allem“ (Zetkin, 1960a, S. 715) stand und jeder
sozialen Gruppe besondere Vorzüge verheißen wurden, diente jener letztlich doch
den Interessen der besitzenden Klasse.
Für Zetkin implizierte die Analyse des Faschismus eine kritische Auseinander-
setzung mit den Fehlern, die dessen Aufstieg ermöglicht hatten und die der
Arbeiter:innenbewegung selbst zuzuschreiben waren, um daraus Schlüsse für die
eigene politische Arbeit zu ziehen. Was Zetkin zufolge den sozialistischen Orga-
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nisationen abhandengekommen war und was sie in der gemeinsamen Anstren-
gung gegen die faschistische Gefahr wiederzuerlangen hote, bestimmte sie dabei
als „das Bindende“ (Zetkin, 1960a, S. 726). Darunter verstand sie ein gemeinsa-
mes Gesellschaftsprojekt, das zum einen aus geschichtlicher Erfahrung erwuchs
und begründete Honung darauf stiftete, dass eine Gesellschaftsordnung ohne
Ausbeutung und Unterdrückung möglich sei. Zum anderen müsse es in den All-
tag der Menschen Eingang nden und dort „schöpferisch, gestaltend“ (Zetkin,
1960a, S. 724) wirken, indem den Menschen in den gemeinsamen politischen
Kämpfen praktisch erfahrbar wurde, dass sie ihre Interessen durch das eigene
Mitwirken erreichen konnten und somit nicht ohnmächtig der kapitalistischen
Herrschaft ausgeliefert waren (Zetkin, 1960a, S. 728).
Der Analyse Zetkins kommt vor dem Hintergrund des gegenwärtig zu beobach-
tenden Erstarkens der extremen Rechten eine besondere Aktualität zu. Wie neue
Studien zeigen, führen die Krisen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung – wie
sie sich nicht allein in der voranschreitenden Klimakatastrophe manifestieren, son-
dern auch in alltäglichen Erfahrungen kaum noch bezahlbarer Mieten, steigender
Lebenshaltungskosten und unsicherer Arbeitsverhältnisse – unter Jugendlichen
zu einer „Verlustangst zweiter Ordnung“: „die Angst davor, eine versprochene
Zukunft zu verlieren“ (Friedrich & Schniederjann, 2024, S. 78; vgl. SINUS-
Jugendstudie, 2024, S. 155-166). Diese Ergebnisse bestätigen Gegenwartsana-
lysen, die einen zunehmenden „Weltverlust“ (Schauer, 2023) diagnostizieren. Im
Zuge der spätmodernen Vergesellschaftung geht demnach die Erfahrung der Ge-
staltbarkeit der eigenen und kollektiven Lebenszusammenhänge verloren. Dabei
scheint es den Menschen keineswegs nur subjektiv so, als verselbständigten sich
die sozialen Zusammenhänge gegenüber ihrem bewussten Handeln, sondern die
Gestaltung des Sozialen entzieht sich tatsächlich immer mehr kollektiven politi-
schen Entscheidungen und wird demgegenüber der Verfügungsgewalt Einzelner
und abstrakten Marktmechanismen unterstellt. Das begünstigt den politischen
Vormarsch rechtsextremer, antidemokratischer Kräfte, die sozioökonomische Pro-
bleme nicht als Konsequenz einer strukturell auf Ausbeutung und sozialer Hier-
archisierung beruhenden Gesellschaftsform verstehen, sondern dafür bereits mar-
ginalisierte soziale Gruppen verantwortlich machen, um so eine „Ethnisierung
der sozialen Frage“ (Friedrich & Schniederjann, 2024, 77) voranzutreiben. Wie
Étienne Balibar mit Blick auf die politischen Verhältnisse in Frankreich heraus-
gestellt hat, müsste eine linke Gegenbewegung demgegenüber darauf hinwirken,
Räume für Politik als kollektive Praxis [pratique collective] zu schaen, in der die
Einzelnen ihre Autonomie entfalten [libération de l’autonomie des individus] und
zugleich an solidarischen Praktiken der Selbstorganisierung für eine gemeinsame
Sache [chose commune] teilhaben, um die politische Ohnmacht und Passivität zu
überwinden, auf denen der Rechtspopulismus und insbesondere der Faschismus
gründet (Balibar, 2024b).
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Ausgehend von der skizzierten Gegenwartsdiagnose arbeitet der vorliegende Bei-
trag heraus, wie Zetkin die sozialen Umwälzungen infolge der Oktoberrevolution
1917 und hier vor allem die Entwicklungen im Bereich der Bildung bewertete.
Die Sowjetregierung sah sich in pädagogischer Hinsicht mit der Herausforderung
konfrontiert, breite Teile der Bevölkerung, denen die politische Passivität, in die
sie im zaristischen Russland versetzt wurden, zur Gewohnheit geworden war, da-
für zu gewinnen, sich aktiv an der Gestaltung des sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Lebens der neuen Gesellschaft zu beteiligen. Angesichts sich zuspit-
zender Krisen der kapitalistischen Reproduktionsweise stellt sich auch heute die
Frage, wie die Menschen für ein alternatives Gesellschaftsprojekt zu begeistern
sind, das eine grundlegende Umwandlung der sozialen Ordnung „von unter“, also
unter aktiver Mitwirkung der Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene, anstrebt. Als his-
torisches Modell kann uns die frühe Phase des sowjetischen Aufbaus nach der Ok-
toberrevolution einerseits Aufschluss geben über die Bedingungen einer solchen
politischen Organisierung der Bevölkerung und andererseits die Gefahren einer
Bildung aufzeigen, die diesem politischen Anspruch gerecht zu werden versucht.
Im ersten Teil des Beitrags wird zunächst der historische Kontext skizziert, in dem
Clara Zetkin ihre Beobachtungen über das sowjetische Bildungssystem anstell-
te, und welche Fragen für sie dabei leitend waren. Der zweite Teil rekonstruiert
das Bild, das sich Zetkin von der sowjetischen Pädagogik und ihrer praktischen
Umsetzung in den frühen 1920er-Jahren machte, und untersucht, inwieweit die
dort praktizierten Bildungskonzepte Zetkin zufolge für die zuvor benachteiligten
Gruppen emanzipatives Potenzial entfalten konnten. Der Beitrag schließt drittens
mit einer Reexion auf die Aporien der sowjetischen Bildungspraxis, die an eine
Beobachtung Walter Benjamins in seinem Moskauer Tagebuch anknüpft und die-
se anhand des von Zetkin beschriebenen Konzepts proletarischer Pädagogik aus-
formuliert. Demnach war jene Praxis Mitte der 1920er-Jahre nicht länger durch
die gelebte Erfahrung der Heranwachsenden gesättigt, sondern das Revolutionäre
wurde der Jugend phrasenhaft gelehrt.
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1 Zetkins Auseinandersetzung mit der sowjetischen Pädagogik
als Forschungsdesiderat
Clara Zetkin (geb. Eißner, 1857-1933) war eine deutsche Politikerin, Pädago-
gin, Journalistin, marxistische eoretikerin und Sozialistin, die sich entschie-
den für die Interessen und Rechte von Arbeiter:innen sowie gegen Militarismus,
Faschismus und Krieg einsetzte. Gegenwärtig wird sie wieder verstärkt in der
historischen Frauen- und Geschlechterforschung als bedeutende Vertreterin der
internationalen proletarischen Frauenbewegung rezipiert.1 Darüber hinaus setzte
in den vergangenen Jahren auch ein wachsendes Forschungsinteresse an ihrem
pädagogischen Wirken ein (vgl. Uhlig, 2008; Engelmann & Striebritz, 2016;
Pfützner, 2017; Huber et al., 2021; Miethe, 2023, 2024).2 Der Fokus liegt dabei
in der Regel auf der frühen Schaensphase Zetkins, als sie noch Mitglied der
Sozialdemokratischen Partei (SPD) war und in dieser Funktion u. a. an Bildungs-
kommissionen sowie der Konzeption der sozialistischen Frauenbildungsvereine
mitwirkte und am Entwurf der ersten bildungspolitischen Leitsätze der Partei
beteiligt war (Zetkin & Schulz, 1906). Hingegen kaum erforscht ist die spätere
Phase, nachdem Zetkin infolge der Zustimmung der SPD zu den Kriegskredi-
ten zur Finanzierung des Ersten Weltkriegs aus dieser ausgetreten war, sich ge-
meinsam mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zunächst der Unabhängigen
Sozialdemokratischen Partei (USPD) und später der Kommunistischen Partei
(KPD) anschloss und ab dem Herbst 1920 längere Reisen nach Sowjetrussland
unternahm. Der vorliegende Beitrag nimmt diese bislang kaum erforschte Schaf-
fensphase in den Blick und untersucht anhand von Aufsätzen, Reden und Briefen
aus den Jahren 1917 bis 1926, wie Zetkins Konzept proletarischer Pädagogik
durch die Erfahrungen in den im Aufbau begrienen Sowjetrepubliken beein-
usst wurde.
Clara Zetkins Interesse an den politischen Entwicklungen in Russland setzte be-
reits früh ein (vgl. Haberkorn, 2024). Schon während ihrer Lehrerinnenausbil-
dung in Leipzig erhielt sie über ihre enge russische Freundin Wawara Eingang
in einen Zirkel russischer Studierender und lernte so auch ihren ersten Partner
1 Anlässlich ihres 150-jährigen Geburtstages im Jahr 2007 wurden zwei Sammelbände und eine
Zusammenstellung von zentralen Texten Zetkins mit einer kurzen Biograe veröentlicht (vgl.
Hervé, 2007; Franzke & Nagelschmidt, 2008; Plener, 2008); jüngst erschienen außerdem eine
neue Biograe (Zucker, 2021) und einige Artikel zu Zetkins Wirken innerhalb der proletarischen
Frauen- und Arbeiter:innenbewegung (vgl. u. a. Sproat, 2012; Luparello & Gaido, 2023; Engel-
mann, 2024b; Zucker, 2024). Auch ihre Tätigkeit als Redakteurin von Frauenzeitschriften wurde
zuletzt näher in den Blick genommen und qualitativ-inhaltlich analysiert, wie Zetkin vermittels ih-
rer redaktionellen Tätigkeit zur politischen und geschichtsbewussten Bildung proletarischer Frauen
beitrug (vgl. Sachse, 2010, 2020; Engelmann, 2023).
2 Diese Diagnose trit nur auf die west- und seit 1990 gesamtdeutsche Rezeption Zetkins zu, in der
DDR und Sowjetunion wurde Zetkin hingegen sehr umfassend als Vertreterin einer proletarischen
bzw. sozialistischen Pädagogik rezipiert (vgl. insbesondere Hohendorf, 1983).
doi.org/10.35468/6162-05
摘要:

Engelmann,ChristinaZwischenrevolutionärerErfahrungundautoritativerParole.ClaraZetkinüberdassowjetischeBildungssystem(1917-1926)Engelmann,Christina[Hrsg.];Haberkorn,Tobias[Hrsg.];Miethe,Ingrid[Hrsg.]:ProletarischePädagogik.Verhältnisbestimmungen,historischeExperimenteundKontroversensozialistischerBil...

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