Zwischen revolutionärer Erfahrung und autoritativer Parole
| 95
nisationen abhandengekommen war und was sie in der gemeinsamen Anstren-
gung gegen die faschistische Gefahr wiederzuerlangen hote, bestimmte sie dabei
als „das Bindende“ (Zetkin, 1960a, S. 726). Darunter verstand sie ein gemeinsa-
mes Gesellschaftsprojekt, das zum einen aus geschichtlicher Erfahrung erwuchs
und begründete Honung darauf stiftete, dass eine Gesellschaftsordnung ohne
Ausbeutung und Unterdrückung möglich sei. Zum anderen müsse es in den All-
tag der Menschen Eingang nden und dort „schöpferisch, gestaltend“ (Zetkin,
1960a, S. 724) wirken, indem den Menschen in den gemeinsamen politischen
Kämpfen praktisch erfahrbar wurde, dass sie ihre Interessen durch das eigene
Mitwirken erreichen konnten und somit nicht ohnmächtig der kapitalistischen
Herrschaft ausgeliefert waren (Zetkin, 1960a, S. 728).
Der Analyse Zetkins kommt vor dem Hintergrund des gegenwärtig zu beobach-
tenden Erstarkens der extremen Rechten eine besondere Aktualität zu. Wie neue
Studien zeigen, führen die Krisen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung – wie
sie sich nicht allein in der voranschreitenden Klimakatastrophe manifestieren, son-
dern auch in alltäglichen Erfahrungen kaum noch bezahlbarer Mieten, steigender
Lebenshaltungskosten und unsicherer Arbeitsverhältnisse – unter Jugendlichen
zu einer „Verlustangst zweiter Ordnung“: „die Angst davor, eine versprochene
Zukunft zu verlieren“ (Friedrich & Schniederjann, 2024, S. 78; vgl. SINUS-
Jugendstudie, 2024, S. 155-166). Diese Ergebnisse bestätigen Gegenwartsana-
lysen, die einen zunehmenden „Weltverlust“ (Schauer, 2023) diagnostizieren. Im
Zuge der spätmodernen Vergesellschaftung geht demnach die Erfahrung der Ge-
staltbarkeit der eigenen und kollektiven Lebenszusammenhänge verloren. Dabei
scheint es den Menschen keineswegs nur subjektiv so, als verselbständigten sich
die sozialen Zusammenhänge gegenüber ihrem bewussten Handeln, sondern die
Gestaltung des Sozialen entzieht sich tatsächlich immer mehr kollektiven politi-
schen Entscheidungen und wird demgegenüber der Verfügungsgewalt Einzelner
und abstrakten Marktmechanismen unterstellt. Das begünstigt den politischen
Vormarsch rechtsextremer, antidemokratischer Kräfte, die sozioökonomische Pro-
bleme nicht als Konsequenz einer strukturell auf Ausbeutung und sozialer Hier-
archisierung beruhenden Gesellschaftsform verstehen, sondern dafür bereits mar-
ginalisierte soziale Gruppen verantwortlich machen, um so eine „Ethnisierung
der sozialen Frage“ (Friedrich & Schniederjann, 2024, 77) voranzutreiben. Wie
Étienne Balibar mit Blick auf die politischen Verhältnisse in Frankreich heraus-
gestellt hat, müsste eine linke Gegenbewegung demgegenüber darauf hinwirken,
Räume für Politik als kollektive Praxis [pratique collective] zu schaen, in der die
Einzelnen ihre Autonomie entfalten [libération de l’autonomie des individus] und
zugleich an solidarischen Praktiken der Selbstorganisierung für eine gemeinsame
Sache [chose commune] teilhaben, um die politische Ohnmacht und Passivität zu
überwinden, auf denen der Rechtspopulismus und insbesondere der Faschismus
gründet (Balibar, 2024b).
doi.org/10.35468/6162-05