Zur Bedeutung und Kritik der Fallarbeit
| 127
Mit Verzögerung ist die germanistisch orientierte Fachdidaktik Deutsch von dieser
Entwicklung nicht unberührt geblieben (z.B. Lindow&Wieser 2013; Pieper et al.
2014; Wieser 2015; Bredel&Pieper 2021). Allerdings schon weitaus früher kam es
in der Domäne des Schriftspracherwerbs in der Grundschulpädagogik zu Fallstudien
von Spontanleser:innen und–schreiber:innen, weil die Perspektiven von Kindern
auf die Schrift wichtig wurden, um ihre Erfahrungen mit dem Lesen und Schreiben
herauszuarbeiten (vgl. Blumenstock 1986; Scheerer-Neumann et al. 1986). Typisch
ist für diesen Zeitraum beispielsweise die Fallstudie von Brinkmann (1994), in der
die Schreibversuche von Brinkmanns Tochter Lisa in der Vorschulzeit vollständig
dokumentiert und analysiert wurden. Und transkribierte Audiodokumente aus dem
Unterricht sowie schriftliche Berichte von Lehrkräften wurden für die Lehrkräfte-
bildung schon 1994 mit den „Schlüsselszenen zum Schrifterwerb“ (Dehn 1994) ge-
nutzt. Im Kontext des BLK-Modellversuchs „Elementare Schriftkultur als Prävention
von LRS und Analphabetismus bei Grundschulkindern“ (Hüttis-Gra&Widmann
1996) entstanden auch die „Geschichten vom Schulanfang“ (Wolf-Weber&Dehn
1993), die als aufgeschriebene Beobachtungen und Berichte, die Lernmöglichkeiten
erschließen sollen, und heute als Sammlung von Dokumenten ethnograscher Feld-
forschung bezeichnet werden würden (vgl. Breidenstein et al. 2015, S.35f.).
Mit diversen eoriebezügen und unterschiedlichen Termini wie Kasuistik, fall-
basiertes Arbeiten, Fallanalyse, Fallstudie oder Fallvignette ist „die handlungsent-
lastete, gedankliche Auseinandersetzung mit qualitativem Datenmaterial“ (Kunze
2020, S.29f.) nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehrkräftebil-
dung zu einem Kernanliegen universitärer Seminare geworden (vgl. auch Sirtl
2021). Das gilt für alle Schularten und Schulformen, aber vor allem auch für die
Grundschulpädagogik und für viele Fachdidaktiken (Wittek et al. 2021b). Doch
wie kommt es zu dieser Orientierung an der Kasuistik und zur Arbeit mit Fällen
und welche Honungen bzw. Ansprüche werden damit verbunden? Die kurze
Antwort lautet, dass mit der Fallarbeit vor allem in der Lehrkräftebildung für den
Deutschunterricht an Grundschulen am Anspruch der Wissenschaftsorientierung
festgehalten und zugleich das drängende und die Lehrkräftebildung nachhaltig
begleitende eorie-Praxis-Problem in Seminaren bearbeitet werden kann. Denn
mit Dokumenten aus dem Unterricht, Kindertexten, Erfahrungsberichten, Ge-
dächtnisprotokollen, Ausschnitten von transkribierten oder videograerten Un-
terrichtsaufzeichnungen etc. werden für die Studierenden Formen unterrichtli-
cher Interaktion und Kommunikation als vermeintliche oder wirkliche Nähe zur
unterrichtlichen Wirklichkeit (Praxis) greifbar, die im Kontext wissenschaftlichen
Wissens (eorie) distanziert reektiert und bearbeitet werden.
In diesem Beitrag soll nun skizziert werden, wie die Deutschdidaktik der Grund-
schule die Arbeit mit Fällen gegenwärtig in der universitären Lehrkräftebildung
nutzt und welche Probleme mit den Versuchen zur Absicherung der Wissen-
schaftlichkeit der Lehrkräftebildung und der Konzipierung der eorie-Praxis-
doi.org/10.35468/6156-05