
Zur ethischen Dimension proletarischer Pädagogik
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Von hier aus ziehen sie in die Stadt, um im Rahmen eines gut dokumentierten
Festes (vgl. zul. Faludi, 2022) einen Kranz zu Ehren der beiden großen deutschen
Dichter an deren Statue niederzulegen. Die Mitgliederzeitschrift der Bewegung,
die Arbeiter-Jugend, kommentiert in der Ausgabe vom 28. August entsprechend
euphorisch: „Weimar, das ist das Bethlehem des deutschen Idealismus, jenes Ide-
alismus, der eine der kraftvollsten Wurzeln unseres sozialistischen Kulturideals
darstellt“ (A-J 12 (17), S. 186)2. Wie es scheint, stellt die Orientierung an der
Weimarer Hochkultur, mithin an der Tradition des deutschen Idealismus, zumin-
dest kein Hindernis für die Selbstkennzeichnung als sozialistisch dar. Gleichwohl
ist nun eine gewisse Begrisverwirrung eingeführt: Die Chire Weimar mag sozi-
alistisch sein – doch ist sie auch proletarisch?
Eben diese Frage schwebt über dem vorliegenden Beitrag, der als empirische Stu-
die der Arbeiter-Jugend angelegt ist, und bestimmt seine Struktur. Der Fokus liegt
dabei auf dem Jahrgang des Jahres 1920, somit auf der Frühphase der Weimarer
Republik, und fällt damit in jenen Abschnitt der proletarischen Jugendbewe-
gung, den Jakob Benecke (2020) als ihre „Phase der Eigenständigkeit“ (ebd.,
S. 308) bezeichnet: Zwischen 1919 und 1921 ist die AJ in einem Maße von
der (M)SPD unabhängig und jugendlich wie nie zuvor und niemals wieder in
ihrer Geschichte, die 1908 als gesamtdeutsche und einheitliche Bewegung be-
ginnt3 und mit der Machtübernahme Hitlers 1933 abrupt endet. Die spezischer
ausformulierte Leitfrage der folgenden Untersuchung lautet: Welches Verständnis
proletarischer Pädagogik oenbart die Lektüre der Arbeiter-Jugend für die Zeit um
1920 als Zenit jugendlicher Autonomie der A
J? Um sie zu beantworten, teilt sich
der Beitrag in die folgenden Unterkapitel:
Ich beginne mit heuristischen Vorüberlegungen, um zu eruieren, was proletari-
sche Pädagogik überhaupt sein kann oder soll (Kap 2.1) und in welchem Verhält-
nis sie zu – vonseiten der AJ betontermaßen – sozialistischer Pädagogik (Kap. 2.2)
steht. Nach einer sehr kursorischen historischen Hinführung zum Forschungsge-
genstand (Kap. 3), werden ausgehend von der dem Beitrag vorangestellten Aussa-
ge Max Westphals zwei Besonderheiten der AJ als proletarische Jugendbewegung
nach dem Ende des Ersten Weltkrieges beleuchtet: Einerseits das Verhältnis der
erwachsenen Arbeiterbewegung zur Jugendbewegung (Kap. 4.1); andererseits die
dezidiert ethische Dimension, die dieses pädagogische Verhältnis zu jener Zeit
annimmt (Kap. 4.2). Proletarische Pädagogik, so die zu validierende ese, bedeu-
tet hier ein doppeltes, ethisch fundiertes Verhältnis: einerseits der Erwachsenen zur
Jugend, andererseits der Jugend zu sich selbst. Um sie zu untermauern, werde ich die
in der Zeitschrift verhandelten Bildungs- und Erziehungskonzeptionen vorstellen,
2 Die Zitation der Zeitschriftenquelle erfolgt nach dem Muster A-J Jahrgang (Ausgabe), Seitenzahl.
3 Zuvor bestanden ab den 1870er Jahren verschiedene Jugendsektionen von Arbeiterbildungsvereinen.
Zwischen 1904 und 1908 gab es zwei deutsche Dachorganisationen, je eine in Nord- und eine in
Süddeutschland, die eine Vielzahl autonomer Vereine repräsentierten (vgl. Eberts, 1979, S. 17 .).
doi.org/10.35468/6162-09