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Ingrid Miethe
der Möglichkeit und Notwendigkeit einer proletarischen Bildung sehr kontrovers
diskutiert:
„Während der eine Teil die Erziehung der Jugend den Eltern und Pädagogen überlassen
wissen will – auch über die Schulzeit hinaus – und es geradezu für schädlich erklärt,
wenn eine parteipolitische Tendenz in der Erziehung der Jugend zur Geltung komme –
[…], hält es die andere Richtung für ein kulturelles Gebot, dass die Sozialdemokratie die
Menschen von frühester Kindheit an im Geiste der sozialistischen Weltanschauung zu
erziehen trachte“ (Fischer, 1906, S. 646).
Bei den beiden hier benannten Richtungen handelt es sich um die Parteilinken2
auf der einen und die so genannten „Revisionisten“ auf der anderen Seite. Die
hier ausgetragene Bildungsdebatte ist Teil des allgemeinen Revisionismusstrei-
tes3 innerhalb der Sozialdemokratie. Die Begrie der „proletarischen Erziehung“
bzw. der „sozialistischen Erziehung“ werden von Seiten der Linken in die De-
batte eingebracht und entwickelt. In der revisionistischen Literatur nden diese
Begrie demgegenüber keinen Eingang bzw. werden sogar in Anführungszeichen
gesetzt, so sie zur Kritik der linken Position zitiert werden müssen. Grundge-
danke der linken Position ist, dass der Arbeiter aufgrund seiner Klassenlage über
ein spezisches Bewusstsein verfüge bzw. potenziell verfügen müsste, auch wenn
dieses noch nicht vorhanden sei. Proletarische Bildung habe dann das Ziel, dieses
Klassenbewusstsein zu entwickeln, um den Arbeiter auf diese Weise in die Lage
zu versetzen, aktiv am Klassenkampf teilnehmen zu können. Nach erfolgreicher
proletarischer Revolution sei es dann möglich, die bessere, sozialistische Gesell-
schaft zu schaen, die ihrerseits dann in der Lage wäre, die Grundlagen für eine
gute Bildung für alle zu schaen. Es ging um die Entwicklung einer proletari-
schen / sozialistischen Pädagogik, die dazu diene, diese Ziele zu erreichen. Die
Revisionisten halten dem entgegen, dass eine Scheidung in „bürgerliche“ und
„proletarische“ Wissenschaft weder möglich noch sinnvoll sei. Es sei der falsche
Ansatz, „zu glauben, man käme dadurch zu einer spezischen ‚proletarischen‘
Wissenschaft, dass man die Resultate der allgemeinen Wissenschaft, die Produk-
te der originalen, forschenden und kombinierenden Geistes arbeit aller Länder
2 Diese Gruppe bezeichnet sich selbst auch als „Marxisten“, womit unterstellt wird, dass die „Revisio-
nisten“ nicht (mehr) als Marxisten betrachtet werden können. Von Seiten der Revisionisten werden
die „Marxisten“ häug als „Orthodoxe“ oder „Radikale“ bezeichnet. Um nicht der Position des
linken Flügels zu folgen, Revisionisten als Nicht-Marxisten zu verstehen, verwende ich den Begri
„Linke“ und aufgrund der Etabliertheit des Begris den der „Revisionisten“.
3 Der so genannte Revisionismusstreit begann in den 1890er-Jahren und führte zu heftigen Debatten
innerhalb der Sozialdemokratie. Anhänger des klassischen Marxismus, die darauf bestanden, dass
eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sei, um den Kapitalismus zu über-
winden, standen den so genannten „Revisionisten“ gegenüber, die argumentierten, dass aufgrund
der Veränderung des Kapitalismus ein sozialistischer Wandel auch durch eine Reformpolitik und
demokratische Teilhabe erreicht werden könne.
doi.org/10.35468/6162-01