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Ralf Bohnsack
gangs zum Fall auszuloten. Beide Komponenten nden sich zuerst in den klassischen
Studien der Chicagoer Schule. Exemplarisch für diese steht die Studie zu totalen
Institutionen resp. Organisationen von Erving Goman (Kap 1.1).
Die Erkenntnispotenziale und die Analyseeinstellung sozialwissenschaftlicher
Fallanalysen werden in diesem Beitrag aspekthaft in Auseinandersetzung mit me-
thodologischen und epistemischen Prinzipien aus den Bereichen der klassischen
Hermeneutik, Sozialphänomenologie, Kultursoziologie, Chicagoer Schule, der
Systemtheorie und Objektiven Hermeneutik umrissen. Aus der Perspektive der
Praxeologischen Wissenssoziologie und Dokumentarischen Methode sind die Po-
tenziale kasuistischer Erkenntnis, Kritik und Bildung wesentlich davon abhängig,
inwieweit es gelingt, sich von den Normalitätsschablonen und Selbstverständlich-
keiten des Common Sense zu lösen (Kap 1.2 u. Kap.1.4). Die Rekonstruktion des
Falles in seiner Einzigartigkeit wird durch praxeologische Typenbildungen nicht
gefährdet, d. h. diese führen nicht automatisch in eine Subsumtionslogik. Im Ge-
genteil wird der Fall in seiner Einzigartigkeit und Besonderheit überhaupt erst
erkennbar durch seine Verortung im Schnittpunkt und in der Überlagerung un-
terschiedlicher Typen auf der Grundlage einer komparativen Analyse (Kap.1.4).
Der Frage nach der berufspraktischen Bedeutsamkeit einer kasuistischen Bildung
und dessen Verhältnis zur Vermittlung von Grundlagen und Methoden sozial-
wissenschaftlicher Forschung wird in Kap. 2 nachgegangen. Die Beantwortung
der Frage ist von der genauen grundlagentheoretischen und methodologischen
Verortung der zu vermittelnden Potenziale abhängig. Aus der Perspektive der Do-
kumentarischen Methode und Praxeologischen Wissenssoziologie handelt es sich
vor allem um jene Potenziale des impliziten Wissens, welche es den beteiligten
Akteur:innnen ermöglichen, die Strukturen der interaktiven Praxis, also der Ei-
genlogik von Interaktionssystemen (hier vor allem diejenigen zwischen den be-
ruichen Akteur:innen und ihrer Klientel) und deren Relation und Spannungs-
verhältnisse zu den Motivunterstellungen, den normativen Erwartungen und
theoretischen Vorannahmen, in den Blick zu nehmen.
Diese Potenziale bezeichne ich als diejenigen des praktischen Erkennens (vgl. auch
Bourdieu 1976, S.145) resp. praktischen Reektierens (Kap.2.1)3. Sie sind elementare
Voraussetzung gleichermaßen für die sozialwissenschaftliche Forschung ebenso wie
die beruiche Praxis und unsere Praxis ganz allgemein. Diese Potenziale werden zwar
in elementarer Form schon früh in der sozialisatorischen Interaktion erworben. Für
die professionalisierte Bewältigung von Interaktionen im Rahmen von people pro-
cessing organizations im Sinne der „konstituierenden Rahmung“ (Bohnsack 2024
sowie 2020) ist jedoch ihre Steigerung, und Schärfung auch hinsichtlich ihrer Di-
stanz gegenüber Common Sense-Unterstellungen (insbesondere der Attribuierung
von Intentionen und Motiven) Voraussetzung. Das praktische Erkennen hat eine
3 Den Begri der impliziten Reexion, der in früheren Arbeiten (u. a. Bohnsack 2022, 2020, 2017)
ebenfalls Verwendung ndet, verstehe ich synonym zu demjenigen der praktischen Reexion.
doi.org/10.35468/6156-03