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Lasse Hansohm
Rückführung auf konkrete Autor:innen oder Werke nicht möglich. Da es mir hier
aber vornehmlich um die Herausarbeitung der für das Generationenverhältnis re-
levanten Strukturmerkmale von bürgerlicher und proletarischer Pädagogik in Ben-
jamins Rezeption geht und nicht um die Akkuratheit Benjamins Rekonstruktion
einzelner Autor:innen kann hier von dieser historischen Problematik abgesehen
werden.
Zunächst zu Benjamins Verständnis der bürgerlichen Pädagogik: Im Kinderthe-
atertext sowie in der Rezension „Eine kommunistische Pädagogik“ erscheint das
Generationenverhältnis der bürgerlichen Pädagogik als das einer aufzuhebenden
Dierenz: Kinder und Erwachsene sind zunächst ungleich; durch Erziehung je-
doch werden die Kinder an die Erwachsenen angeglichen. In Benjamins Worten:
„Psychologie und Ethik sind die Pole, um die sich die bürgerliche Pädagogik gruppiert.
Man soll nicht annehmen, sie stagniere. Es sind in ihr beissene und bisweilen auch
bedeutende Kräfte am Werk. Nur können sie nichts dawider, daß die Denkungsart des
Bürgertums hier wie in allen Bereichen auf eine undialektische Weise gespalten und in
sich zerrissen ist. Auf der einen Seite die Frage nach der Natur des Zöglings: Psychologie
der Kindheit, des Jugendalters, auf der anderen das Erziehungsziel: der Vollmensch, der
Staatsbürger. Die ozielle Pädagogik ist das Verfahren, diese beiden Momente – die
abstrakte Naturanlage und das chimärische Ideal – einander anzupassen, und ihre Fort-
schritte liegen dabei in der Linie, zunehmend List an Stelle der Gewalt zu setzen.“ (GS
III, S. 206)
Das, was Benjamin an dieser Stelle als die „Denkungsart des Bürgertums“ bzw.
als die „ozielle Pädagogik“ bezeichnet, operiert mit einer normativen Setzung
eines Zielpunktes: die Entwicklung zum vollen Menschsein. Das „Erziehungs-
ziel: der Vollmensch“ ist in der Figur des Kindes angelegt, aber noch nicht ver-
wirklicht. Das Kind soll in vollem Maße Mensch werden, ist es aber noch nicht. Es
ist noch nicht mündig, es hat die Sitten, Bräuche und Traditionsbestände noch
nicht verinnerlicht und noch kein Gattungsbewusstsein ausgebildet. Kindsein
erscheint vor diesem Hintergrund als Ausdruck eines mangelhaften, dezitären
Zustands, der aufgehoben werden soll.6 Erziehung ist das „Verfahren“ der ein-
seitigen Angleichung der kindlichen „Naturanlage“ an das „chimärische Ideal“.
Die Art und Weise der Angleichung ist hierbei insofern einseitig gedacht, als die
Erwachsenen idealiter bereits exakt das sind, was das Kind erst noch werden soll:
„Eine Generation erzieht die andere“, wie es bei Kant heißt (Kant, 1964, S. 697).
Über die Entfaltung des individuell-persönlichen Potenzials und der damit ver-
bundenen Teilhabe am Gattungsfortschritt sowie seiner Tradierung rechtfertigt
sich die einseitige Einwirkung, d. h. die Erziehung selbst. Aus der Perspektive
und eorie vgl. den Beitrag von Florian Grams in diesem Band. Grams behandelt insb. auch
Punkte, an denen zwischen Hoernle und der Parteilinie Spannungen bestehen.
6 Zur Dezitkonzeption von Kindheit vgl. Gheaus (2015) und Matthews (2023).
doi.org/10.35468/6162-04