Fallkonstitution als neuralgischer Punkt
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wird“ (Bohnsack 2021, S.7). Im Tätigkeitsfeld der Lehre weist die dort durch-
zuführende Praxis deutliche Äquivalenzen zum zukünftigen Berufshandeln der
Studierenden auf, nämlich die Bedeutsamkeit der Interaktion mit ‚der Klientel‘.
Eine Berücksichtigung dieser Dierenz zwischen Forschung und Lehre und ihr
Einuss auf kasuistisches Arbeiten ndet im Diskurs um Kasuistik bisher wenig
explizite Beachtung.3 Nun mag die Herausforderung, Forschung und Lehre zu
relationieren, weder spezisch für Kasuistik noch für das Lehramtsstudium sein,
andersherum scheint es aber bei der Betrachtung von Kasuistik in der universitären
Lehrer:innenbildung gewinnbringend zu sein, jene bei der Gegenstandsbestim-
mung mitzudenken. Ergänzend zu diesen Überlegungen, sind die hochschuldi-
daktischen und programmatischen Ansprüche hinsichtlich einer Professionalisie-
rung der Studierenden durch kasuistische Formate mitzudenken:
Innerhalb des aktuellen Diskurses über Kasuistik lassen sich zwei Linien ausma-
chen, wie diese Relation von Forschung und Lehre diskutiert werden. In dem ei-
nen Strang scheint (implizit) die Annahme leitend, dass Forschung und Lehre na-
hezu in eins fallen. Werner Helsper spricht bspw. konkret von „fallrekonstruktiver
Lehrer:innenbildung“ (Helsper 2021, S.162, Herv. d. Verf.). Und Andreas Wer-
net zieht den Schluss, dass die für universitäre Kasuistik genuin hohe Forschungs-
orientierung ohnehin dazu führe, dass sich „das Problem der Einheit von Forschung
und Lehre hochschuldidaktisch kaum stellt“ (Wernet 2021, S.299, Herv. i. O.).
Insbesondere dort, wo „die sozial- und erziehungswissenschaftliche Lehre […]
von fallrekonstruktiv prozedierenden Forscher:innen durchgeführt wird“, seien
„kasuistische Elemente“ (Wernet 2021, S. 300) erwartbar. Eine Kasuistik, die
forschungslogisch orientiert in die Lehre integriert wird, könne demzufolge nur
methodisch geleitet und „in der vollen Riskanz eines oenen Erkenntnisprozes-
ses“ (Helsper 2021, S.162) gestaltet werden. Hier wird Kasuistik in einem for-
schungsnahen Verständnis entworfen. In den bisherigen empirischen Befunden
deutet sich allerdings an, dass eine Forschungsorientierung als Anspruch kasuisti-
scher Lehre ein „unerreichbares Ideal“ (Schmidt&Wittek 2021a, S.262) zu sein
scheint. In dem anderen identizierten Strang des Diskurses wird demgegenüber
Kasuistik von vornherein insofern in einer (hochschul-)didaktischen Perspektivie-
rung gedacht, dass bspw. Fragen der Vermittelbarkeit, didaktischen Umsetzung
und Funktionen innerhalb der Lehre thematisiert werden (Schmidt& Wittek
3 In ähnliche Richtung argumentiert Merle Hummrich in der Beobachtung, dass Kasuistik durch
eine Spannung gekennzeichnet sei, die eine an „Praxisreexion und wissenschaftliche Erkenntnis“
orientierten Kasuistik von einer „in den Dienst der Praxis“ Hummrich (2020, S.68) gestellten
unterscheidet. Wolfgang Meseth attestiert Fallarbeit eine ähnliche Spannung, die er als Changieren
zwischen „empirisch-deskriptivem Forschungswissen (Fremdbeschreibung) und praktisch-norma-
tivem Professionswissen (Selbstbeschreibung)“ Meseth (2016, S.39) deutet. Während bei diesen
Spannungsverhältnissen unterschiedliche Handlungsfelder (Universität, schulischer/pädagogische
Praxis) aufgerufen werden, richtet sich hier der Blick auf die universitären und in sich spannungs-
vollen Tätigkeitsbereiche.
doi.org/10.35468/6156-12