
Zum Verhältnis von Sozialpädagogik und Sozialismus
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als Erziehung von Bürgern bzw. Staatsbürgern11, wobei nach seiner Lesart der
Arbeitsunterricht das dazu zentrale Erziehungsmittel ist. Und er verbindet dieses
Verständnis mit „revolutionäre[m] Engagement für die Benachteiligten“ (Kronen,
1980, S. 121).
Die oben genannte Schrift Sozialpädagogische Streiichter wird im weiteren Verlauf
dieses Artikels eine Rolle spielen. Denn die Schrift wird 1888 in der Zeitschrift
Die Neue Zeit durch den berühmten Marxisten Karl Kautsky (1854-1938) rezen-
siert. Die Besprechung bildet gewissermaßen den Endpunkt eines Streites, den
Seidel und Kautsky zuvor in den Jahren 1881-1882 vor allem in der Zeitschrift
Der Sozialdemokrat austragen. Kautsky publiziert dabei unter dem Synonym Sym-
machos, während Seidel das Synonym A. B. C. verwendet.
Beide Zeitschriften, Die Neue Zeit und Der Sozialdemokrat, sind wichtige Organe
der damaligen Sozialdemokratie und dienen der „Erhaltung und Entwicklung ei-
ner gemeinsamen Wertorientierung“ (Gilcher-Holtey, 1986, S. 35), auch vor dem
Hintergrund der Verfolgung der Sozialdemokratie und ihrer Organisationen im
deutschen Kaiserreich (sogenannte Sozialistengesetze). Die Neue Zeit spielt dabei
eine „Schlüsselrolle im innerparteilichen Diskurs“ (Gilcher-Holtey, 1986, S. 36),
denn mit ihm betreibt Kautsky die Verankerung einer marxistischen Sozialismus-
konzeption in der Partei (vgl. Gilcher-Holtey, 1986, S. 39). Zudem vermag Die
Neue Zeit „am ehesten einen Eindruck von der Rezeption pädagogischer Anschau-
ungen [durch die Sozialdemokratie; d. Verf.] in dieser Zeit zu geben“ (Neumann,
1980, S. 49, Fußnote 3).
Die teils heftige Auseinandersetzung zwischen Seidel und Kautsky, in die schließ-
lich auch Parteigranden wie Wilhelm Liebknecht12 und August Bebel13 einbezo-
gen werden, bildet – aus der Sicht des Verfassers – gewissermaßen eine ‚Blau-
pause‘ für kommende Auseinandersetzungen. Sie kreist u. a. um das Verhältnis
von Demokratie zu Sozialismus. Diese Verhältnisbestimmung tangiert auch die
Sozialpädagogik, denn schließlich geht es der frühen Sozialpädagogik um die ge-
lingende Vermittlung von Individualität und Sozialität, etwa als Gesellschaft oder
Gemeinschaft. Insofern sind politische Vorstellungen, wie Gesellschaft und Staat
zu gestalten sind, immer mit in die Sozialpädagogik eingelagert.
Die Idee des vorliegenden Beitrags ist daher, durch eine Analyse des Seidel-Kaut-
sky-Streites ein erhellendes Blitzlicht auch auf das Verhältnis von früher Sozialpä-
dagogik und Sozialismus zu werfen – nicht generell, sondern exemplarisch. Hierzu
nutzt der Beitrag eine spezische hermeneutische Methodik (siehe Müller, 2014).
11 Die männliche Form wird benutzt, wenn dies den historischen Quellen entspricht. Begrie wie
Bürger, Staatsbürger usw. sind in den historischen Quellen meist männlich konnotiert. Eine hier
nachträgliche eingefügte gendergerechte Sprache würde diese Vereinseitigung nicht kenntlich ma-
chen.
12 Siehe Kommentierungen und Briefe in Langkau (1988).
13 Siehe Kommentierungen und Briefe in Dlubeck & Herrmann (1970).
doi.org/10.35468/6162-10