Abrichten_und_Erziehen_OA

2025-04-14 0 0 263.29KB 18 页 5.8玖币
侵权投诉
Giesinger, Johannes
Abrichten und Erziehen. Zur pädagogischen Bedeutung der
Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins
formal überarbeitete Version der Originalveröffentlichung in:
formally revised edition of the original source in:
Pädagogische Rundschau 62 (2008) 3, S. 285-298
Bitte verwenden Sie in der Quellenangabe folgende URN oder DOI /
Please use the following URN or DOI for reference:
urn:nbn:de:0111-opus-7587
10.25656/01:758
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-opus-7587
https://doi.org/10.25656/01:758
Nutzungsbedingungen Terms of use
Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und
beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist
ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch
bestimmt. Die Nutzung stellt keine Übertragung des Eigentumsrechts an
diesem Dokument dar und gilt vorbehaltlich der folgenden Einschränkungen:
Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle
Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz
beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise
abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder
kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen,
vertreiben oder anderweitig nutzen.
We grant a non-exclusive, non-transferable, individual and limited right to
using this document.
This document is solely intended for your personal, non-commercial use. Use
of this document does not include any transfer of property rights and it is
conditional to the following limitations: All of the copies of this documents must
retain all copyright information and other information regarding legal
protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for
public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform,
distribute or otherwise use the document in public.
Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die
Nutzungsbedingungen an. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of
use.
Kontakt / Contact:
peDOCS
DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
Informationszentrum (IZ) Bildung
E-Mail: pedocs@dipf.de
Internet: www.pedocs.de
Abrichten und Erziehen
Zur pädagogischen Bedeutung der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins*
„Die Grundlage jeder Erklärung ist das Abrichten. (Das sollten Erzieher bedenken.)“
Ludwig Wittgenstein1
Der englische Erziehungsphilosoph Christopher Winch2 verwendet Elemente der Spätphi-
losophie Ludwig Wittgensteins zur Kritik pädagogischer Reformbewegungen, welche den
Wert des selbständigen, entdeckenden Lernens betonen. Im menschlichen Bildungsprozess,
sagt Winch im Anschluss an Wittgenstein, sei die Praxis des Abrichtens von zentraler Bedeu-
tung. Ihm ist klar, dass diese Aussage unter heutigen Pädagogen Irritation auslöst. Das gilt
selbst dann, wenn an Stelle des deutschen Begriffs, der an die Dressur oder Konditionie-
rung von Tieren denken lässt, der weniger anstößige Begriff training3, der in der englischen
Übersetzung von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen zu finden ist, verwendet
wird: „Training has a very bad press amongst most educators. It is often thought of as the
antithesis of education“, schreibt Winch4. Die Ablehnung der Abrichtung beruht gemäss
Winch zum einem auf einem Missverständnis: Abrichtung ist demnach nicht, wie oft ange-
nommen wird, mit behavioristischer Konditionierung gleichzusetzen. Zum anderen richtet
sich die Kritik gegen die starke Stellung der Lehrperson im Abrichtungsprozess: Die Bezie-
hung zwischen Lehrperson und lernender Person in diesem Prozess muss als Autoritätsbe-
ziehung gesehen werden, wie Winch unmissverständlich festhält. Menschliches Lernen ist
nach Winch wesentlich dadurch charakterisiert, dass es innerhalb einer solchen Autoritäts-
beziehung stattfindet. Die reformädagogische Idee des Lernens durch selbständiges Entde-
cken hält er entsprechend für eine gefährliche Illusion.
Ist es legitim, aus Wittgensteins Philosophie derartige Schlüsse zu ziehen? Wittgenstein
hat sich zu pädagogischen Fragen nie direkt geäußert. Sein primäres Interesse galt nicht
den Begriffen des Lernens oder der Bildung, sondern dem Begriff der Bedeutung.5 Das Pro-
blem des Lehrens und Lernens spielt aber in seiner späten Philosophie, vor allem in den
Philosophischen Untersuchungen, eine herausragende Rolle. Nachdem Wittgenstein seinen
frühen Tractatus logico-philosophicus abgeschlossen hatte (1918; Erstveröffentlichung: 1922),
war er überzeugt, alle Probleme der Philosophie gelöst zu haben. Konsequenterweise
wandte er sich in der Folge von der Philosophie ab, absolvierte nach seinem Einsatz im Ers-
Johannes Giesinger
ten Weltkrieg die einjährige Lehrerausbildung und trat im Jahre 1920 [286] eine Stelle als
Volksschullehrer im niederösterreichischen Trattenbach an. Für ihn und auch für viele sei-
ner Schüler war dies keine glückliche Zeit6, aber die Erfahrungen im Lehrerberuf dürften
ein Grund dafür sein, dass er später zentrale philosophische Fragestellungen vom Problem
des Lernens her betrachtete. Ebenso kann vermutet werden, dass ein bereits früher beste-
hendes Interesse an diesem Problem ihn allererst auf den Gedanken brachte, sich als Lehrer
zu versuchen.7 Wittgensteins Lehrtätigkeit fiel in eine Zeit grundlegender Schulreformen in
der neu gegründeten Republik Österreich: Zu den von der Reformpädagogik inspirierten
Ideen des Unterrichtsministers Otto Glöckel scheint Wittgenstein ein distanziertes Verhält-
nis gehabt zu haben. Obwohl gewisse reformpädagogische Ideen in seine Unterrichtspraxis
einflossen, entsprach diese gemäß der Einschätzung Konrad Wünsches8 in keiner Weise der
Grundformel „vom Kinde aus“. Wittgenstein war als Lehrer streng, dominant und überfor-
dernd. Er förderte die intelligenten Schüler, ließ aber auch ihnen wenig Freiraum für selb-
ständige Lernprozesse. Dass er seine Schüler körperlich misshandelt hat, wird noch heute
von ihnen bezeugt.9
Im Jahre 1926 gab Wittgenstein seine Unterrichtstätigkeit auf und ging bald darauf
(1929) als Philosoph nach Cambridge. In den folgenden Jahren entstand sein zweites
Hauptwerk, die Philosophischen Untersuchungen, welches allerdings erst nach seinem Tod
erstmals erschien. Dieses 1953 veröffentlichte Buch setzt mit einer Passage des Philosophen
Augustinus über das Lernen der Sprache ein: Nach Augustinus’ Sprachauffassung, welche
mit der von Wittgenstein im Tractatus vertretenen verwandt ist, stehen Wörter für Gegenstän-
de. „Die Bedeutung“, interpretiert Wittgenstein, „ist der Gegenstand, für welchen das Wort
steht“10. Entsprechend lernt das Kind die Bedeutung eines Wortes nach Augustinus da-
durch, dass man es auf einen Gegenstand hinweist und dabei das Wort ausspricht, welches
diesen Gegenstand bezeichnet. Wittgenstein unterzieht im Weiteren diese Theorie des Ler-
nens und die damit verbundene Sprachtheorie einer umfassenden Kritik. In §5 taucht zum
ersten Mal jener Begriff auf, der seine Überlegungen zum Problem des Lernens durchzieht,
der Begriff des Abrichtens: „Das Lehren ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten“.
Im Folgenden soll zunächst dargestellt werden, welche Rolle der Begriff des Abrichtens
in der Philosophie Wittgensteins einnimmt. Dabei kann auch überprüft werden, ob sich die
Praxis des Abrichtens tatsächlich, wie Winch behauptet, sinnvoll vom behavioristischen
Konditionieren abgrenzen lässt. Der zweite Teil löst sich von der textnahen Interpretation
der Gedanken Wittgensteins und seiner Anhänger. Hier wird erörtert, inwiefern sich die im
ersten Teil skizzierten Grundgedanken für die Kritik reformpädagogischen Gedankenguts
nutzbar machen lassen.
2
Abrichten und Erziehen
1. Abrichten, Regelfolgen und Initiation
1.1 Die Initiation in eine Lebensform
„From a Wittgensteinian position“ schreiben Paul Smeyers und James Marshall,„,educati-
on’ can be conceived as a dynamic initiation into a ,form of life’“11. Smeyers und Marshall
greifen hier die von Richard Peters12 geprägte Vorstellung von Erziehung und Bildung als
Initiation auf. Diese Konzeption hebt, entgegen rousseauistischen Vorstellungen, den sozia-
len und kulturellen Charakter des Lernens hervor. Kindliches Lernen ist demnach wesentlich
sozial in dem Sinne, dass das Kind nicht primär selbständig, sondern [287] von anderen Per-
sonen lernt. Es ist kulturell in dem Sinne, dass es auf diese Weise dazu gelangt, an der kultu-
rellen Überlieferung der Gemeinschaft, an deren Lebensform, teilzunehmen. Der Begriff der
Lebensform ist eng verknüpft mit dem Begriff des Sprachspiels: „Das Wort ,Sprachspiel’ soll
hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Le-
bensform“13. Das Sprechen der Sprache, also die Teilnahme an Sprachspielen, stellt nicht
nur selbst ein Tun dar, es ist eingebettet in Tätigkeiten, in die gemeinsame Praxis einer Le-
bensform. Die Einführung in gemeinsame Praktiken ist für das heranwachsende Kind von
elementarer Bedeutung. Shields erläutert den zentralen Punkt folgendermassen: „(A)n in-
fant’s first cries sound almost indistinguishable to us. At first we judge the difference bet-
ween a wet diaper, hunger, sleepiness and primal angst less by fine nuances in the infant’s
voice, than by what seems most plausible according to our sense of the situation, because,
given our linguistic competence, we are in a better epistemic position to make these distinc-
tions, grasp the nature of the problems, and recognize when we err. It is the different kinds
of responses we make in these different contexts that helps the infant to learn to distinguish
different sources of distress and to begin to communicate them through an ever increasing
repertoire of sounds“14.
Gemäß dieser Veranschaulichung von Wittgensteins Position beginnt der Prozess der In-
itiation gleich nach der Geburt. Im Gegensatz zum schreienden Säugling können wir Er-
wachsene dessen Empfindungen oder Gefühle begrifflich unterscheiden und sprachlich
ausdrücken. Durch unsere unterschiedlichen Reaktionen auf das kindliche Schreien ermög-
lichen wir dem Kind, die entsprechende Unterscheidungs- und Ausdrucksfähigkeit selbst
zu entwickeln. Genau dies, sagt Shields, verstehe Wittgenstein unter Abrichtung. In Witt-
gensteins eigenen Beispielen allerdings ist nicht von Säuglingen die Rede, die durch Ge-
räusche kommunizieren, sondern von Kleinkindern, die sprechen lernen.15 Wittgensteins
Grundgedanke ist, dass ein Kind, das sprechen lernt, noch kein voll entwickelten geistiges
Wesen ist, welches nur noch lernen muss, seine innere Welt anderen Personen zugänglich
zu machen. Es verfügt nicht über eine vorgefertigte Sprache des Geistes, deren Elemente es
im Spracherwerb nur noch mit den richtigen Etiketten versehen müsste. Erst mit der Initia-
3
摘要:

Giesinger,JohannesAbrichtenundErziehen.ZurpädagogischenBedeutungderSpätphilosophieLudwigWittgensteinsformalüberarbeiteteVersionderOriginalveröffentlichungin:formallyrevisededitionoftheoriginalsourcein:PädagogischeRundschau62(2008)3,S.285-298BitteverwendenSieinderQuellenangabefolgendeURNoderDOI/Pleas...

展开>> 收起<<
Abrichten_und_Erziehen_OA.pdf

共18页,预览4页

还剩页未读, 继续阅读

声明:本站为文档C2C交易模式,即用户上传的文档直接被用户下载,本站只是中间服务平台,本站所有文档下载所得的收益归上传人(含作者)所有。玖贝云文库仅提供信息存储空间,仅对用户上传内容的表现方式做保护处理,对上载内容本身不做任何修改或编辑。若文档所含内容侵犯了您的版权或隐私,请立即通知玖贝云文库,我们立即给予删除!
分类:图书资源 价格:5.8玖币 属性:18 页 大小:263.29KB 格式:PDF 时间:2025-04-14

开通VIP享超值会员特权

  • 多端同步记录
  • 高速下载文档
  • 免费文档工具
  • 分享文档赚钱
  • 每日登录抽奖
  • 优质衍生服务
/ 18
客服
关注