
Abrichten und Erziehen
1. Abrichten, Regelfolgen und Initiation
1.1 Die Initiation in eine Lebensform
„From a Wittgensteinian position“ schreiben Paul Smeyers und James Marshall,„,educati-
on’ can be conceived as a dynamic initiation into a ,form of life’“11. Smeyers und Marshall
greifen hier die von Richard Peters12 geprägte Vorstellung von Erziehung und Bildung als
Initiation auf. Diese Konzeption hebt, entgegen rousseauistischen Vorstellungen, den sozia-
len und kulturellen Charakter des Lernens hervor. Kindliches Lernen ist demnach wesentlich
sozial in dem Sinne, dass das Kind nicht primär selbständig, sondern [287] von anderen Per-
sonen lernt. Es ist kulturell in dem Sinne, dass es auf diese Weise dazu gelangt, an der kultu-
rellen Überlieferung der Gemeinschaft, an deren Lebensform, teilzunehmen. Der Begriff der
Lebensform ist eng verknüpft mit dem Begriff des Sprachspiels: „Das Wort ,Sprachspiel’ soll
hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Le-
bensform“13. Das Sprechen der Sprache, also die Teilnahme an Sprachspielen, stellt nicht
nur selbst ein Tun dar, es ist eingebettet in Tätigkeiten, in die gemeinsame Praxis einer Le-
bensform. Die Einführung in gemeinsame Praktiken ist für das heranwachsende Kind von
elementarer Bedeutung. Shields erläutert den zentralen Punkt folgendermassen: „(A)n in-
fant’s first cries sound almost indistinguishable to us. At first we judge the difference bet-
ween a wet diaper, hunger, sleepiness and primal angst less by fine nuances in the infant’s
voice, than by what seems most plausible according to our sense of the situation, because,
given our linguistic competence, we are in a better epistemic position to make these distinc-
tions, grasp the nature of the problems, and recognize when we err. It is the different kinds
of responses we make in these different contexts that helps the infant to learn to distinguish
different sources of distress and to begin to communicate them through an ever increasing
repertoire of sounds“14.
Gemäß dieser Veranschaulichung von Wittgensteins Position beginnt der Prozess der In-
itiation gleich nach der Geburt. Im Gegensatz zum schreienden Säugling können wir Er-
wachsene dessen Empfindungen oder Gefühle begrifflich unterscheiden und sprachlich
ausdrücken. Durch unsere unterschiedlichen Reaktionen auf das kindliche Schreien ermög-
lichen wir dem Kind, die entsprechende Unterscheidungs- und Ausdrucksfähigkeit selbst
zu entwickeln. Genau dies, sagt Shields, verstehe Wittgenstein unter Abrichtung. In Witt-
gensteins eigenen Beispielen allerdings ist nicht von Säuglingen die Rede, die durch Ge-
räusche kommunizieren, sondern von Kleinkindern, die sprechen lernen.15 Wittgensteins
Grundgedanke ist, dass ein Kind, das sprechen lernt, noch kein voll entwickelten geistiges
Wesen ist, welches nur noch lernen muss, seine innere Welt anderen Personen zugänglich
zu machen. Es verfügt nicht über eine vorgefertigte Sprache des Geistes, deren Elemente es
im Spracherwerb nur noch mit den richtigen Etiketten versehen müsste. Erst mit der Initia-
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