Johannes Giesinger
Axel Honneth (2005) oder Jane Heal betonen (2005), nicht als rein kognitiver Prozess zu
fassen, sondern geschieht auf der Basis emotionalen Involviertseins. Emotionale Identifika-
tion mit der anderen Person ermöglicht ein Verstehen von deren Gründen. In der Beschäfti-
gung mit ihren Gründen kommen wir nicht umhin, selbst Stellung zu beziehen: Sind diese
Gründe für uns akzeptabel oder nicht? Der Impuls zur Stellungnahme ist für die teilneh-
mende Haltung charakteristisch. Allerdings ist es im Prozess des Verstehens essentiell, dass
die verstehende Person ihre eigenen Einschätzungen von den normativen Festlegungen der
zu verstehenden Person zu unterscheiden weiß.
Nähern wir uns hingegen anderen Menschen als objektivierende Beobachter, so überge-
hen wir sie in ihren personalen Eigenschaften: Wir suchen zu erklären, warum sie dies ge-
sagt oder jenes getan haben oder zu prognostizieren, was sie in Zukunft tun werden, ohne
uns auf sie als Handelnde einzulassen. Als Beobachter allerdings sind wir stets auch Teil-
nehmer an der interpersonalen Praxis: Indem wir Aussagen über unsere Beobachtungen
machen, treten wir zumindest virtuell in einen Diskurs mit anderen Personen. Wir erheben
selbst Geltungsansprüche und reagieren auf die Geltungsansprüche anderer. Wir präsentie-
ren uns als Personen, die auf ihre Aussagen ansprechbar sind und richten unsere Aussagen
an andere Personen. Wie Seel (2006) betont, ist die Perspektive des Beobachters deshalb
stets an die Teilnehmerperspektive gekoppelt. Hier besteht eine logische Abhängigkeit, an-
dererseits aber wohl auch eine genetische Koppelung: Die Beobachterperspektive ist in ihrer
Entwicklung an die Teilnehmerperspektive gebunden. Der Mensch ist zu objektivierender
Beobachtung erst fähig, nachdem er dazu gelangt ist, am Leben anderer Personen teilzu-
nehmen. Die Fähigkeit zur Objektivierung der Welt, so wird oftmals angenommen, bedingt
die Fähigkeit, diese Welt nicht nur durch seine eigenen, sondern auch durch die Augen an-
derer zu sehen (vgl. insbesondere Davidson 1982/2001, sowie Honneth 2005). Daraus ent-
steht einerseits das Bewusstsein einer gemeinsamen Welt, andererseits auch die Möglichkeit,
Differenzen zu erkennen und zu artikulieren. Einerseits nämlich ermöglicht erst die Fähig-
keit zur Perspektivenübernahme, gemeinsam mit anderen ein bestimmtes Objekt in den
Blick zu nehmen, im wechselseitigen Bewusstsein, dass das jeweilige Gegenüber seine Auf-
merksamkeit ebenfalls darauf richtet.2 Andererseits lässt die Verfügbarkeit unterschiedli-
cher Perspektiven das Bewusstsein wachsen, dass man die Welt unterschiedlich sehen
kann. Dies wiederum wirft die Frage auf, wie die Welt wirklich – also unabhängig von der
subjektiven Perspektive – beschaffen ist und welche Betrachtungsweise die richtige ist. Das
Bewusstsein einer objektiv bestehenden Welt, über die man richtige oder falsche Meinun-
gen haben kann, ist allerdings nicht nur von der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ab-
hängig, sondern auch von der Entwicklung einer propositionalen Sprache. Das Lernen von
Sprache wiederum ist möglicherweise an die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ge-
knüpft. Wer sprechen lernt, wird damit in eine bereits bestehende regelgeleitete Praxis ein-
2