
Erkenntnistheoretische Problematisierung des
herrschenden Situationsverständnisses
So richtig es auch sein mag, dass eine Situation stets mit Bezug auf beobachtbare
Umweltfaktoren gedacht, bestimmt und identifiziert wird, so wichtig ist ande-
rerseits aber bereits erkenntniskritisch, dass dasjenige, was wir unter ausschliess-
licher oder akzentuierter Bezugnahme auf externale (Umwelt-)Faktoren «Situa-
tion» nennen, Resultat einer Bestimmung ist, die von der Wahrnehmung oder
von der Beobachtung externaler Faktoren (Tatsachen) kontrolliert werden mag,
die aber dennoch nicht mit der aussersubjektiven und insofern «objektiven» Re-
alität verwechselt werden darf. Tatsachen werden in stets selektiven Tatsachen-
feststellungen und Tatsachenfeststellungen in Tatsacheninterpretationen konsti-
tuiert. Relevant werden (so konstituierte) Tatsachen (erst) im Licht unent-
behrlichen Vor-Wissens und eines von Erkenntnis- oder Handlungs-Zwecken
bestimmten Interesses. Zwischen den externalen, aussersubjektiv existierenden
und in diesem Sinn objektiven Gegebenheiten einerseits und der subjektiven Re-
zeption und Interpretation dieser Gegebenheiten andererseits besteht eine Diffe-
renz, die wir mit Hilfe methodologischer Regeln und methodischer Kontrollen
zu überbrücken versuchen, niemals aber wirklich zu überwinden oder zu di-
spensieren vermögen. Bereits Kant vertritt die Auffassung, «dass alle unsre An-
schauung nichts als die Vorstellung von Erscheinungen sei; dass die Dinge, die
wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre
Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und dass,
wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne
überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im
Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Er-
scheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können. Was es
für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller
dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbe-
kannt. Wir kennen nichts, als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentüm-
lich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, ob zwar jedem Menschen, zu-
kommen muss» (Kant, 1781/1787; 1956, S. 87 [A 41, 42]).
Unabhängig davon, welche Funktion den (vermeintlich) externalen (Um-
welt-)Faktoren in der Konstitution des Situationskonzeptes zugebilligt wird, sie
sind nicht wirklich external und können es aus dargelegten erkenntniskritischen
Gründen gar nicht sein. Situation welchen Verständnisses auch immer ist nie-
mals nur unabhängige Variable der Befindlichkeit oder der Merkmalsausprägung
des in einer Situation Sich-Verhaltenden oder Sich-Befindenden (= abhängige
Variable), sondern immer und unvermeidbar auch (wahrscheinlich sogar zuvor,
mindestens aber zugleich) abhängige Variable des diese Situation definierenden
und konstituierenden Subjektes (ähnlich Arnold, 1981, S. 277; Ebner, 2000, S.
117). Konkret formuliert: Ein Lernender, der mit einer (komplexen und au-
thentischen) Situation konfrontiert wird, wird damit nicht auch schon mit dem
Revue suisse des sciences de l’éducation 23 (3) 2001 515
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