Katherine Kerr - Polar City Blues

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BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 24152
Erste Auflage: Februar 1992
Für Stephen W. Dahin, wo immer er jetzt ist. Er weiß auch, warum.
© Copyright 1990 by Katherine Kerr
All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1992
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach
Originaltitel: Polar City Blues
Lektorat: Reinhard Rohn
Titelillustration: Luis Royo, Norma Agency, Barcelona
Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg
Satz: Fotosatz Schell, Bad Iburg
Druck und Verarbeitung:
Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich
Printed in France
ISBN 3-404-24152-5
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Die Riesensonne über dem Horizont von Hagar geht unter. Langsam versinkt sie im Dunst und bringt
ihn zum Leuchten. Streifen von Kupferorange fächern über den Himmel, so aufdringlich bunt, als
versuchte der Regisseur eines schlechten Holo-Films den Sonnenuntergang auf einem Planeten seiner
Phantasie darzustellen. Aber wenn das Kupfer allmählich verblaßt und sich in ein scheußliches Lila
verwandelt, dann geht es am Himmel über Polar City erst richtig los. Das Nordlicht knistert und
knattert über der Stadt, als wollte es die Skyline mit Girlanden in allen Regenbogenfarben schmücken,
und so das nüchterne Bild verzaubern, das nichts so sehr ähnelt wie senkrecht aufgestellten
Eierkartons. Hin und wieder umspielt eine Flut purpurnen und silbernen Lichts auch die hohen
Startrampen des Raumhafens. Obwohl das nichts Besonderes ist für die meisten Bewohner der Stadt
(die um diese Zeit gewöhnlich aufstehen, nach den Kindern oder den Eiern in den Brutkästen sehen
oder sich die Zähne putzen und ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht spritzen ...), hält an diesem
Abend Baskin Ward, Corporal der Polizei, auf seinem Streifgang durch die Innenstadt an und lehnt
sich gegen die blaue Plastbetonmauer der Stadtbibliothek, um das Schauspiel am Himmel zu
betrachten. Es gibt eine Menge Dinge, über die er nachdenken müßte, und außerdem ist es wie immer
sehr heiß in Polar City. In einer Stunde wird die Stadt zum Leben erwachen, aber heute würde er sich
nicht anstrengen. Er muß seine Kräfte aufsparen für das Examen morgen. Wenn er bestand, dann wäre
er Sergeant und könnte endlich die Frau heiraten, die er seit drei Jahren liebt. Sie arbeitet in der
Computerzentrale der Verkehrsüberwachung und wünscht sich, genau wie er, zwei Kinder und vor
allem ein Ticket, um von dieser verdammten zurückgebliebenen Wüstenwelt mit dem ewig
bonbonfarbenen Himmel wegzukommen. Wenn
er sich als Sergeant bewährt, kann er beantragen, nach Sarah, seinem Heimatplaneten, versetzt zu
werden, wo es Regen gibt und grüne, üppige Wälder. Aber erst einmal muß er die Prüfung bestehen.
Das blaue Licht der Straßenlaternen flackert auf, die nur von einem Magnetfeld gehalten sechs Meter
über dem Boden schweben, über den grauen Gehwegen und den glänzenden schwarzen
Transportbändern, die daran vorbeigleiten. Vor ihm liegt die Plaza, der große zentrale Platz vor den
Gebäuden der Stadtverwaltung, wie ausgestorben, nur eine Frau ist zu sehen, die eilends ihres Weges
geht. Ihre hochhackigen Stiefel klappern auf den tönernden Platten, als wollten sie mit dem Geknatter
des Magnetsturms oben am Himmel wetteifern. Nicht lange, und die Büromenschen, die Bürokraten
der Verwaltung werden in Scharen hier auftauchen, nachdem sie sich tagsüber in den unterirdischen
Wohnsiedlungen um den Stadtkern herum verkrochen haben. Ward hofft, daß es eine ruhige Nacht
wird. Wahrscheinlich ein paar Betrunkene und ein paar mehr Leute im Drogenrausch, die er
verwarnen und über das Terminal an seinem Gürtel dem Rehabilitationscomputer melden würde; ein
Taschendieb vielleicht, das wäre schon das Äußerste. Eigentlich geht es nur darum, daß man ihn sieht,
in dieser gelbgrünen Uniform mit den eindrucksvollen goldenen Tressen, mit der silberglänzenden
Betäubungspistole, dem Symbol staatlicher Macht.
Er rückt seine Mütze zurecht, stößt sich von der Wand ab und betritt das Laufband, das über die Plaza
zum Rathaus führt, einem riesigen schwarzen Basaltklotz, kaum aufmunternder als ein Grabstein. Das
Laufband durchquert in der Mitte des Platzes ein Karree, das Reihen von Steineichen eingrenzen.
Sobald er die Baumreihe passiert, scheint ein unsichtbarer Mechaniker tief unter der Erde das
Hologramm einzuschalten, das den öffentlichen Platz verschönern soll: Ein Springbrunnen mit hoher
Fontäne wird von einem zum anderen Augenblick Wirklichkeit, ohne das mindeste Geräusch steigt
das Wasser in die Höhe und fällt ebenso lautlos, wieder zur Erde, bis nach einer winzigen
Verzögerung das Tonband mit dem Zischen und Plätschern einsetzt. Dann beginnen auch die
Ionengeneratoren zu arbeiten, und Ward glaubt fast die Kühle des Wassers zu spüren, während er
näherkommt. Er verläßt das Laufband und geht hinüber zu der niedrigen Einfassung, die Abfälle,
Eidechsen und Haustiere von dem imaginären Springbrunnen fernhalten soll. In der Mitte des großen
weißen Beckens aus Plastbeton sieht er den ersten Betrunkenen oder Drogensüchtigen dieser Nacht
liegen, fast verborgen hinter den Wasserschleiern.
»Okay, amigo, wollen die Beinchen nicht mehr, na?«
Und Ward watet durch das Hologramm, es irritiert ihn, obwohl es absurd ist, daß seine Beine sich
nicht naß und kühler anfühlen. Der Mann rührt sich nicht, scheint auf ihn zu warten. Liegt seelenruhig
auf dem Rücken, die Hände auf der Brust gefaltet. Dann bemerkt Ward die Lache, mehr schwarz als
rot im blauen Licht der Bogenlampen, die sich über das weiße Becken ausgebreitet hat.
»Herr im Himmel!«
Schnell kniet Ward sich hin und greift nach dem Terminal am Gürtel. Er sieht, daß es sich um einen
männlichen Carli handelt, etwa anderthalb Meter groß und noch dünner als die meisten seiner Spezies;
spindeldürr sind die drei Finger an jeder Hand, die hellgraues Fell umkleidet. Dunkelgraues Fell
bedeckt Gesicht, Arme und Hals, doch ist es stumpf und verfilzt. Die Augen sind weit offen, die Ohren
zur vollen Länge aufgerichtet, daß die Haut an der Basis sich in Falten gelegt hat. Der dünne Schlitz
des Mundes ist fest verschlossen. Ward kennt sich aus mit Carlis, diese Mimik bedeutet, daß man
vielleicht ein wenig überrascht war, nichts weiter. Das Opfer hatte nichts befürchtet, keiner Gefahr ins
Auge gesehen, genau bis zu dem Augenblick, als man ihm die Kehle durchschnitt bis hinunter auf die
Wirbelsäule.
»Da er ein Carli ist, Sir, wird er wohl zur Botschaft der Konföderation gehören.«
»Darauf können Sie wetten, Ward.«
Chief AI Bates, ein stämmiger Riese mit so schwarzer Haut, daß man blaue Lichtreflexe darauf
glitzern sieht, steht mit dem Corporal, einem Weißen, der ihm nicht einmal bis zur Schulter reicht, am
Rand der Plaza. Sie schauen den Holo-Photographen und den Technikern zu, die sich um die Leiche
versammelt haben. Der Springbrunnen ist abgeschaltet, so daß sie den Toten nun deutlicher sehen
können sein kostbares blaues Gewand aus echten Naturfasern, das komplizierte Chronometer mit
einem Armband aus massivem Gold am linken Handgelenk. Das schließt einen gewöhnlichen
Raubüberfall aus. Obwohl der Polizeichef am liebsten ein einfaches Motiv gefunden hätte unbezahlte
Spielschulden vielleicht oder eine Affäre mit der Frau eines anderen Carli , befürchtet er tief in seinem
Herzen, daß der Mord etwas mit Politik zu tun hat. Und das deshalb, weil eben jedes größere
Verbrechen auf Hagar etwas mit Politik zu tun hat. Nur sechs Straßen weiter nach Westen befand sich
das Botschaftsgebäude der mächtigen Interstellaren Konföderation, acht Straßen östlich die Botschaft
der nicht weniger respektablen Coreward-Allianz. Und in der Mitte dazwischen stand wie als Symbol
das Rathaus von Polar City, Sitz der Provinzialverwaltung dieses Teils der bemitleidenswert kleinen
Republik, die aus sieben bewohnten Planeten in vier Systemen, zwei Asteroidengürteln und einer
Handvoll Monde bestand, auf denen eifrig nach Erz geschürft wurde. Zwischen Hammer und Amboß,
pflegten die Einwohner der Stadt zu sagen, und meistens meinten sie es wörtlich.
Nun fallen die Büromenschen immer zahlreicher in die Stadt ein, quellen wie Sandwürmer aus den U-
Bahn-Schächten, und natürlich bleiben sie stehen und gaffen. Ohne daß man es ihm sagen müßte, geht
Ward hinüber und fordert sie auf, weiterzugehen; ein guter Mann, denkt sein Chef, der
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die Streifen eines Sergeants wohl verdient. Und endlich kommt auch der Gerichtsmediziner mit seinen
Leuten, die eine Schwebetrage durch die Menge schieben. Bates fragt sich, warum die Mörder den
Toten auf der Mitte der Plaza zurückließen, auch noch im Springbrunnen, was zugegebenermaßen ein
seltsamer Ort ist, um sich einer Leiche zu entledigen. Vielleicht waren die Täter noch neu in Polar City
und wußten nichts von dem Hologramm? Oder war es eine ganz bewußte Beleidigung des Toten? Die
Carlis sind äußerst schwierig, was den Umgang mit ihren Toten betrifft. Bates nimmt sich vor, die
Datenbank nach ihren Begräbnisgebräuchen zu befragen; vielleicht hat man dem Toten durch das
imaginäre Wasser in seiner Nähe die denkbar größte Schmähung zugefügt.
»Sieht schrecklich aus, Chief.«
»Heh! Mulligan!« Bates ist herumgefahren, die Betäubungspistole halb gezogen, bevor er seine
Fassung wiederfindet. »Wirst du gefälligst aufhören, dich an mich heranzuschleichen? Oder willst du
eines schönen Abends einen Laserschock verpaßt haben?«
Mulligan grinst nur. Dieses breite, jungenhafte Grinsen, das zu den Dingen an ihm gehört, die der
Polizeichef am allerwenigsten leiden kann. Obwohl Bates zugestehen würde, daß eine freie
Gesellschaft auch Paras tolerieren muß und daß sie sich tatsächlich auch nützlich erweisen können,
fühlt er sich doch in der Nähe dieser Psi-Jongleure nicht wohl und ganz besonders nicht in Mulligans
Nähe. Heute sieht er noch schlimmer aus als sonst, das dürre, zwei Meter lange Gestell in schmutzigen
weißen Shorts und einem grünen Hemd, das bis zum Nabel offen ist beides viel zu weit für den
mageren Kerl. Das immer ungekämmte Haar ist an diesem Tag türkisfarben, es kontrastiert unschön
mit dem leuchtend roten Psi, das auf seine linke Wange tätowiert ist. Diese Kennzeichnung war
vorgeschrieben. (Denn obwohl die Republik Paras tolerierte, mußten sich die anderen Bürger nach
Möglichkeit vor ihnen schützen können.) Mulli-
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gans Augen glitzern wie die eines Reptils - er trägt goldfarbene, reflektierende Kontaktlinsen. Bates
findet es abstoßend. Er kann den Gedanken nicht unterdrücken, daß das typisch für die Weißen, los
Blancos, ist, die am liebsten der harten Wirklichkeit aus dem Weg gehen und das Unechte auch in
ihrer äußeren Erscheinung bevorzugen. Dann schämt er sich, daß er wieder in die alten Vorurteile
verfallen ist.
»Kann ich was für Sie tun?« Mulligan deutet vage auf die Leiche.
»Wofür brauchst du das Geld? Dreamdust?«
»Das Zeug nehme ich nie. Aber warum fragen Sie nicht nach meiner Miete? Mein Vermieter will mich
rauswerfen. Ist das ein Grund?«
Bates schnaubt ungläubig, dann zögert er und denkt nach. Mulligan hat das Glück, zum rechten
Zeitpunkt hier zu sein, rechtzeitig genug, bevor die Schwingungen oder was auch immer die Paras
wahrnehmen, abgeebbt und für immer verschwunden sind.
»Ja, sicher. Komm.«
Mulligan trottet brav hinterdrein, während der Chief sich einen Weg durch die Menge bahnt, bis zum
Gerichtsmediziner und seinen beiden Gehilfen vor der Leiche. Sie sind im Begriff, das grau
eingehüllte Bündel auf die Schwebetrage zu legen.
»Ich hab' hier einen staatlich anerkannten Para«, sagt Bates, »also laßt ihn noch einen Moment hier.«
Die Gehilfen gehorchen und legen die Leiche wieder auf den Boden des Brunnenbeckens. Mulligan
kniet nieder, kauert sich auf die Fersen, dann streckt er seine weißen, langfingrigen Hände über der
Leiche aus. Einen Augenblick sitzt er still da, während einer der Männer ein Tonband hervorholt, um
alles, was er sagen wird, mitzuschneiden. Der andere hat sich ein Stück Kaukraut aus der Hemdtasche
geholt. Dann wird Mulligan plötzlich steif, sein Kopf schnellt nach hinten, der ganze Körper windet
sich, und er
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heult auf wie ein Tier, ein hoher, schriller Schmerzensschrei. Der eine Gehilfe verschluckt sein
Kaukraut und verschwindet, um es unbeobachtet irgendwo im Rinnstein zu erbrechen. Der andere, der
mit den Methoden der Paras besser vertraut scheint, schaltet das Tonband ein und gähnt. Bates hockt
sich neben Mulligan.
»Was siehst du?«
Mit halboffenem Mund wendet Mulligan ihm den Kopf zu. Wegen der reflektierenden Kontaktlinsen
dauert es eine Weile, bis der Chief merkt, daß hier etwas gründlich schiefläuft. Mulligan sieht ihn gar
nicht, er versucht verzweifelt, etwas zu sagen, seine Arme zu heben. Als Bates ihn packt, heult er ein
zweites Mal auf, aber diesmal klingt es, als drücke man ihm die Kehle zu. So groß und korpulent Bates
auch ist, wenn es darauf ankommt, kann er äußerst schnell sein. Er reißt Mulligan mit sich, während er
aufspringt, zerrt ihn zur Seite. Es ist, als würde man einen Menschen von einer elektrischen Leitung
reißen. Erst krampft Mulligan noch, dann sackt er in Bates' Armen in sich zusammen. Türkisfarbene
Schweißbäche laufen ihm übers Gesicht.
»Einen Arzt!« gellt Bates' Stimme durch die Menge. »Einen Arzt! Schnell!«
Mulligan erwacht auf dem Untersuchungstisch einer kargen Zelle der Notfallambulanz von Polar City,
tief unter der Stadt. Die rosafarbenen Wände sind schmutzig, entlang der Fußbodenleisten erkennt man
Urinflecke zweier verschiedener Spezies. Der Geruch nach Desinfektionsmittel schnürt Mulligans
trockene Kehle noch mehr zusammen. Die grelle Lampe an der Decke über dem Tisch macht ihm
Augenschmerzen. Er versucht, sich auf den Bauch zu drehen, aber der Schmerz in seinem Kopf läßt
ihn laut aufstöhnen. In einer Ecke der Zelle ist ein Waschbecken Wasser ...! wenn er es nur erreichen
könnte. Aber Beine und Arme schmerzen so entsetzlich, daß er daran zweifelt. So bleibt er einige
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Minuten bewegungslos liegen und versucht sich zu erinnern, wie er hierhergekommen ist. Es kann
nicht anders sein, ein vom Kurs abgekommener Gleiter muß ihn über den Haufen gefahren haben,
vielleicht auch einer dieser Verrückten auf einem dieser altmodischen Fahrräder. Er weiß noch, wie er
eine Straße überquerte, um mit Bates, dem Polizeichief, zu sprechen. Danach war alles dunkel.
Draußen auf dem Korridor hört er Schritte, große, schwere, schlurfende Schritte. Dann spürt er, wie
ein anderer Geist in sein Bewußtsein dringt.
Okay, kleiner Bruder, hier Nunks. Nach Hause ... sicher. Mein Zuhause ... sicher.
Mulligans Augen füllen sich mit Tränen. Er wischt sie mit dem Ärmel ab, und jetzt erst wird ihm
bewußt, daß jemand seine Fähigkeit, Signale zu senden, neutralisiert hat. Das macht ihn fast rasend
vor Wut, obwohl er nicht sagen kann, warum. Aber nun berührt milde Wärme seinen Geist.
Krankenschwester gibt Nunks jetzt Tasche.
Dabei öffnet sich die Tür, und Nunks trottet herein. Gut über zwei Meter groß, sieht er mit seinen zwei
Beinen, zwei Armen und dem Kopf oben auf dem Rumpf durchaus menschenähnlich aus. Er trägt
einen schwarz-weiß-gestreiften Overall, der an den Knien abgeschnitten ist, so daß man das flauschige
und dichte graue Fell auf den Beinen sehen kann. Wie immer ist er barfuß. Am Kopf ist sein Pelz
bläulich - das heißt, zuerst denkt man, es wären zwei Köpfe: zwei keilförmige Elemente, jedes mit
einem leicht rötlichen Ohrstreifen, die in der Mitte durch ein Gebilde aus Knochen und Fleisch
verbunden sind. Ein Kopf mit drei Augen und einem kreisrunden Mund. Er bringt Mulligan einen
Plastikbecher mit Wasser, hilft ihm beim Trinken, dann legt er eine der großen Hände mit der
unbehaarten Handfläche auf Mulligans Stirn. Die Kopfschmerzen verschwinden.
DM heilst ... oder betäubst? fragt Mulligan.
Betäuben. Heilen weiß nicht.
Sehr gut. Danke.
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Gehen nach Hause ... Weiß Lacey? Weiß Buddy?
Lacey vielleicht.
Nach Hause. Nunks nickt ganz ernst, väterlich. Wärter finden. Nicht hierherkommen.
Doch der Krankenwärter kommt schon. Er stürzt durch die Tür, als befürchte er, daß Nunks seinen
Patienten ermorden wolle. Sein dunkelbraunes Gesicht ist grimmig. In der einen Hand hält er eine
Funkbox, in der anderen ein Impfpistole.
»Okay, Bleichgesicht«, fährt er Mulligan an. »Spricht dein ... äh, Freund Merrkan?«
»Er kann überhaupt nicht sprechen, aber er versteht Merrkan.«
»Gut: Was hat er hier zu suchen?« wendet er sich zu Nunks. »Wer hat dich überhaupt reingelassen?«
Nunks sieht ihn unverwandt mit zwei seiner großen grünen Augen an. Dann geht er auf ihn zu und
hebt eine Hand.
»Du hast hier nichts zu suchen! Heh ... was soll das? Rühr mich nicht an, Blödmann! Laß ...«
In dem Augenblick, in dem Nunks Hand seine Stirn berührt, beginnt er zu lächeln. Leise seufzt er auf
und gleitet besinnungslos zu Boden.
Kleiner Bruder: Gehen, nicht gehen?
Nicht gehen. Mulligan übermittelt ihm etwas von seinen Schmerzen. Mit einem leichten Winseln zeigt
Nunks, daß er verstanden hat.
Kleiner Bruder blockiert?
Kann sein.
Nunks hebt ihn hoch, und Mulligan schlingt die Arme um seinen Nacken. Er läßt sich tragen wie ein
Kind. Sie vereinen ihre Psi-Kräfte und senden zusammen ein Signal von solcher Stärke aus, daß sie
gegen ihre Umgebung abgeschirmt sind. Niemand nimmt sie wahr, so gut wie unsichtbar sind sie auf
ihrem Weg durch die Korridore: vorbei an der grau und silber gestrichenen Triage-Abteilung, vor der
vier Weißkittel stehen und tratschen. Durch das menschenwim-
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melnde Foyer, hinaus auf die Plaza und hinüber zur Haltestelle der Robotaxis. Niemand sieht sie
gehen, niemand sagt ein Wort, um sie aufzuhalten - nicht einmal während der fünf Minuten, die sie auf
ein leeres Taxi warten müssen, das in ihre Richtung fährt. Nunks öffnet die Tür und setzt Mulligan auf
den Sitz, doch muß Mulligan die Koordinaten für Porttown eintippen, denn dafür sind Nunks' Finger
zu dick. Doch strengt es ihn so sehr an, daß er gleich außer Atem ist.
Das eigentliche Porttown beginnt gut drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, dort, wo die First
Avenue nur noch geradeaus zum Zollgebäude führt. Hier bleiben auch die Robotaxis stehen, denn ihre
Programmierung erlaubt nicht, daß sie tiefer in diese Gegend vorstoßen. Inzwischen haben sich
Mulligans Muskeln wenigstens so weit entkrampft, daß er humpelnd gehen kann, solange Nunks einen
Arm um ihn gelegt hat und ihn stützt. So trotten sie die D-Straßen entlang, vorbei an den grauen
Fassaden aus Plastbeton, den Pfandhäusern und billigen Hotels, den Betrunkenen in den
Hauseingängen, den Rauschgiftsüchtigen, die sich auf den Gehwegen ausgestreckt haben. Hin und
wieder läßt sich eine müde Nutte aus dem einen oder anderen Fenster vernehmen, mit einem ebenso
müden Scherz, oder ein männliches oder weibliches Wesen in der Uniform der Raumflotte schwankt
seines, ihres Weges, der nach einer Nacht Urlaub zum Raumhafen zurückführt. Zweimal werden sie
von Lizzie-Gangs verfolgt, doch ist Nunks zum einen von beeindruckender Größe, zum anderen kann
er sich in solchen Situationen mit einer von allen Wesen fühlbaren Aura von Feindseligkeit und
Gefahr umgeben, die ihren Eindruck nie verfehlt. Nach einem oder zwei Blocks sind die Gangs
verschwunden.
Nun sind sie schon in Sichtweite des Tors zum Raumhafen, doch biegen sie in eine schmale Gasse, die
vor einer Mauer endet; sie gehört zu einem Lagerhaus, das sich über ein ganzes Karree erstreckt. Eine
Laderampe, große Schiebetore - alles, was dazugehört, doch erkennt man aus der
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Nähe Vorhängeschlösser an den rostigen Toren, die Fenster sind übermalt, die Rampe fast zugeweht
von dem, was der Wind an Abfall herbeigetragen hat. An einer Ecke ist eine ganz normale Tür, über
der ein 3-D-Schild verkündet: A-bis-Z-Unternehmungen. Obwohl Mulligan den Verdacht hat, daß der
Firmenname noch niemanden täuschen konnte, außer einige Touristen von anderen Planeten, die sich
unglücklicherweise in diese Gegend verirrten, muß man doch zugestehen, daß hinter dem Ganzen
nicht eigentlich eine Täuschungsabsicht steckt. Es war eher so, daß den Behörden damit signalisiert
wurde, daß Lacey willens war, ihrem Unternehmen den Anschein von Legalität zu geben, und die
Behörden ihrerseits den Anschein erwecken konnten, sie wüßten nicht, daß man sie täuschte. Auf dem
Planeten Hagar gab es zweifellos ganz eigene Wege, bestimmte Dinge zu tun.
Nunks preßt seine Handfläche gegen das Lesefeld des automatischen Schlosses, und mit einem hohlen
Ächzen gleitet die Tür auf. Schon mit dem ersten Schritt ins Innere fühlt sich Mulligan besser. Was
von außen wie ein massives Gebäude wirkt, ist in Wirklichkeit kaum mehr als eine Art Hülle, eine
Einfriedung von der Größe eines kleinen Zimmers. Darinnen aber befindet sich ein Garten üppiges
Grün, Reihe um Reihe Obstpflanzen und Stauden, Weinranken, Gemüse. Und das alles eingerahmt,
direkt an der Innenmauer, von Bäumen, hauptsächlich alten Apfelbäumen, wie man sie von der Erde
kannte. Sicher gab es eine Menge Beamter bei verschiedenen Behörden, die sich wunderten, woher
Lacey die Extrarationen Wasser hatte, die man für dieses Paradies brauchte, doch stellte niemand
peinliche Fragen. Das war auch besser so, denn was würden sie tun, wenn sie eine exotische Frucht
wünschten, um eine Geliebte zu beeindrucken oder frisches Gemüse, um die Wünsche ihrer
schwangeren Frau zufriedenzustellen? Der Apfelschnaps, den Nunks und Lacey brannten, war
hilfreicher als jedes Schmiergeld, zu unentbehrlich, als daß man
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ihn durch Haarspalterei über irgendwelche Vorschriften aufs Spiel setzen wollte. Außerdem war ein
großer Teil des Wassers völlig legaler Herkunft, denn Lacey war geradezu fanatisch, was die
Rückgewinnung des im Hause verbrauchten Wassers anging.
In der Nacht leuchtet das unaufhörliche Farbenspiel des Nordlichts über dem Garten, fast scheint er im
Rhythmus der aufblühenden Farben zu atmen. Vorsichtig bahnen sie sich einen Weg zwischen zwei
Reihen graugrünen Brotfarns, da bemerkt Mulligan ein Mädchen, das in dem hellen Lichtschein vor
seiner Zimmertür steht. Sie ist vielleicht sechzehn, sehr hübsch, klein und zart. Ihr Haar hat sie weiß
gebleicht und mit einem Hauch Purpur getönt, es hebt sich anmutig von der weichen dunklen Haut ab.
Doch bemerkt Mulligan, daß eine Seite ihres Gesichts blaugeschlagen ist, und sogar in diesem
ungünstigen Licht erkennt er die roten Male an ihrem Hals, die genau die Größe von Fingerspitzen
haben.
Großer Bruder? Neues Mädchen hier? Freundin von Lacey? Wohnt sie hier?
Ja. Nein. Ja. Auf der Straße gefunden, heute mittag.
Als das Mädchen sie bemerkt, huscht sie zurück in ihr Zimmer und schlägt die Tür zu. Mulligan hört
die altmodischen Riegel knarren, eine Vorlegekette rasselt. Sicher ist sicher. Ihre Furcht, die er spürt,
lenkt ihn von seinen eigenen Schmerzen ab, lange genug, um die Freitreppe zum ersten Stock
hinaufzusteigen. Nunks stößt die schwere Tür oben auf, und halb gehend, halb getragen gelangt
Mulligan in den Korridor. Von allen Seiten tönt das Gesumme der Klimaanlage. Sieben, acht Schritte
vor ihnen ist Laceys Tür, sie ist offen, und man hört ihre heisere Stimme, etwas schrill vor Ärger.
»Hör gut zu, panchito! Ich habe dir gesagt, daß du dich an die Regeln halten mußt, wenn du hier
bleiben willst. Regel eins: Wenn Nunks dir sagt, was im Garten zu tun ist, dann erledigst du das auch.
Klar?«
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»Jawohl!« Die Stimme eines Jungen, aber zackig wie ein Soldat.
»Okay. Noch ein Versuch. Aber noch ein Patzer, und du bist draußen!«
Der Junge schiebt sich aus ihrem Zimmer, dann läuft er den Korridor entlang. Vielleicht zwanzig,
denkt Mulligan. Beim Laufen duckt der Junge sich, als suchte er Deckung vor einem unsichtbaren
Laserfeuer.
Mulligan erinnert sich dunkel, daß er ein Deserteur irgendeiner Raumtruppe ist von den
Landungstruppen der Allianz ja ... doch mit einem Mal dreht sich alles in seinem Kopf, und nun ist es
ihm egal.
Nunks fängt ihn auf und trägt ihn die letzten Meter in das Zimmer, legt ihn auf das graue
Schaumstoffsofa an der hinteren Wand. Überrascht blickt Lacey auf. Sie sitzt in einem grauen, mit
Kunstleder bezogenen Sessel, hat die Füße auf die blaue Computerkonsole gelegt und sieht sich auf
dem 3-D-Bildschirm an der Wand ein Baseballspiel an. Seines erbärmlichen Zustands wegen beläßt es
Mulligan diesmal bei einem kurzen, recht abstrakten Anflug von Verliebtheit und Begehren, wie es
ihn jedesmal überkommt, wenn er Lacey sieht. Obwohl eher durchschnittlicher groß, wirkt Lacey
durch ihre kerzengerade Haltung recht stattlich. Dank des Verjüngungsmittels sieht sie aus wie
fünfundzwanzig, geradezu mädchenhaft mit den großen blauen Augen und dem breiten, burschikosen
Lächeln. Doch ist sie in Wirklichkeit dreißig und eine Veteranin der interstellaren Flotte der Republik
was man am Schnitt der blonden Haare unschwer erraten konnte. Obwohl sie es in jeder Flotte, die
mehr als vier Fregatten, drei Kreuzer und ein rostiges Schlachtschiff umfaßte, zu einem hohen Rang
hätte bringen können, war sie vor nicht allzu langer Zeit nur als Kapitänleutnant ausgeschieden. Wer
nicht die ganze Geschichte kannte, neigte zu dem üblichen Schluß, daß sie es sicher bis ganz nach
oben gebracht hätte, wenn nur ihre Hautfarbe nicht weiß gewesen wäre. Aber wie dem auch sei,
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nun lebte sie von ihrer Pension hier in diesem Haus, das sie von einem Onkel geerbt hatte.
»Was, um Himmels willen, ist denn mit dir passiert?« Lacey hatte den Ton des Fernsehers
ausgeschaltet und kommt herüber zum Sofa. Sie trägt Jeans mit abgeschnittenen Beinen und ein weites
blaues Hemd mit dem Aufdruck auf dem Rücken: ZERO-GEE-BOWLING .LEAGUE. »Hast du dich
geprügelt?«
»Weiß nicht«, murmelt Mulligan. Zu seiner Überraschung schmerzt ihn das Sprechen. »Ich dachte, du
wüßtest es.«
Erstaunt sieht Lacey Nunks an, der die Achseln zuckt und fragend die Hände hebt. Obwohl seine
Spezies nie Sprechorgane entwickelt hat, weil sie von Natur aus telepathisch veranlagt war, hat er
gelernt, die Mimik und Gestik von Menschen und Lizzies zu gebrauchen. Und was Lacey anging, so
hat sie gelernt, die richtigen Fragen zu stellen.
»Wir wollen mal sehen«, beginnt sie, »du hast gewußt, daß Mulligan in Schwierigkeiten ist.«
Nunks nickt und tätschelt mit der Hand seinen Kopf, um ihr zu bedeuten, daß er die Schmerzen seines
Freundes telepathisch erfassen konnte. Dann hebt er eine Hand, daß sie einen Augenblick warten soll.
Kleiner Bruder: Sag Lacey starke Kraft, böse. Kann Geist zerstören. Du schreist ... (dort, dort, lange
her). Mord, Carli, Freund von der Polizei.
Keine Erinnerung. Wie sagen?
Versuchen!
Mit einem Seufzer sinkt Mulligan in die Kissen und sucht in seinem Gedächtnis nach der verlorenen
Erinnerung. Ganz unvermittelt prallt er auf eine Mauer von Schmerz, die ihn fast betäubt. Als er zu
stöhnen und keuchen beginnt, läuft Nunks rasch zu ihm und legt eine Hand auf seine Stirn - aber nicht
einmal das kann die Schmerzen unterdrücken. Mulligan gibt es auf, er muß sich von dieser Erinnerung
fernhalten. Jetzt läßt der Schmerz nach.
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Blutgeruch, sagt Nunks, das ist es. Dort, heute abend, Blut. Ich rieche es, kleiner Bruder.
»Da ist etwas und blockiert meine Erinnerung«, sagt Mulligan. Es ist kaum lauter als ein Flüstern. »Es
tut entsetzlich weh, wenn ich es nur versuche. Aber Nunks meint, daß ich für die Polizei gearbeitet
hätte, ein Mord vielleicht, denn er hat etwas von Blutgeruch gesagt.«
»Für Bates, den Polizeichef?«
Freund von der Polizei, meldet sich Nunks sofort.
»Wird es wohl gewesen sein.« Nein, Bates kein Freund, nur Polizist, den ich kenne.
Nunks ist überrascht. Entschuldige.
»Aber man kann ihn doch anrufen. Ich werde sagen, daß du wissen möchtest, was passiert ist.«
»Ich bin gar nicht sicher, ob ich das will.«
Doch, kleiner Bruder. Müssen wissen, unbedingt wissen.
»Na gut, Lacey, natürlich sollte ich wissen, was passiert ist.«
»Okay. Willst du was trinken? Ich habe einen echten Whisky von der Erde.«
»Gerne!«
Sie geht hinüber zur Bar, einem blitzblanken Ding aus grauem und königsblauen Email. Zwischen
schnurgeraden Reihen von Flaschen und Gläsern, die der Größe nach aufgestellt sind wie zum Appell,
steht eine Eiswürfelmaschine. Zwei Würfel gesteht sie Mulligan zu, dann gießt sie großzügig Whisky
darüber. Als sie Mulligan das Glas reicht, schüttelt Nunks mißbilligend den Kopf.
Ärger.
Bitte, großer Bruder, ist notwendig: Kopf betäuben.
Resignation, milde Verachtung.
»Du willst dich wirklich betrinken?« fragt Lacey.
»Bis zum letzten Tropfen. Ich werd's bezahlen, Lacey, wenn ich wieder Geld bekomme.«
»Kein Problem. Aber vom nächsten Glas an werde ich dir
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billigen Schnaps geben, du wirst den Unterschied schon gar nicht mehr merken.«
»Wenn du meinst, meinetwegen.«
Mulligan nimmt einen großen Schluck, dann seufzt er wohlig. Er weiß, daß es ihm bald besser gehen
wird. Nicht lange, und er ist diese Last los, diese >Gabe<, die ihm sein halbes Leben vergällte.
»Ach, Lacey! Wer ist denn das Mädchen mit dem Purpurhaar?«
»Heißt Maria. Ihr Zuhälter hat sie zusammengeschlagen, als sie ihm weglaufen wollte. Er dachte, sie
wäre tot, und ließ sie auf der Straße liegen. Nunks hat sie gefunden und hierhergebracht.«
»Gott im Himmel. Das arme Ding.«
Wut. Ihn suchen, verprügeln! Aber: Angst vor Polizei.
Ja, großer Bruder. Ärger mit Polizei: Zuhälter zahlen viel Geld an Polizei. Stehen unter Schutz.
Ganz unvermittelt geht Nunks. Mit großen Schritten stapft er aus dem Zimmer und schlägt die Tür
hinter sich zu.
»Wieso ist er so aufgebracht?« fragt Lacey.
»Wir haben über das Mädchen gesprochen, Maria, und daß ihr Zuhälter wahrscheinlich die Polizei
schmiert.«
»Nunks hat über unsere Spezies manchmal eine wirklich schlechte Meinung.«
»Und gewöhnlich liegt er damit genau richtig. Stimmt's?«
Mit einem Achselzucken setzt sich Lacey wieder an ihren Computertisch. Ihre Finger spielen über eine
Reihe von Knöpfen, die an der Kante der Tischplatte eingelassen sind.
»Du willst eingeben, was ich dir gesagt habe?« fragt Mulligan.
»Ja, sicher. Ein Mord ist immer ein schwerer Eingriff in ein funktionierendes System, das hat
Konsequenzen. Und ich möchte das mit dieser Geschichte, daß etwas deine Erinnerung blockiert, in
Zusammenhang bringen. Vielleicht findet sich so eine Erklärung.«
»Denke, daß ich eine brauchen könnte. Aber Lacey, sag
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mal - bist du nicht einfach neugierig, was die Leute so quatschen?«
»Nie und nimmer. Du kennst den alten Witz: Du tratschst vielleicht, aber ich tausche wichtige
Informationen aus. In dieser Stadt, mein Kleiner, bedeuten die richtigen Informationen bares Geld.
Meine dämliche Pension beschert mir nicht das Luxusleben, das ich verdiene.«
Mulligan nimmt einen zweiten Schluck Whisky und sieht Lacey zu, die den blaßgrünen Bildschirm
einschaltet. Eine Abdeckplatte auf dem Computertisch schiebt sich zur Seite, und eine Tastatur kommt
zum Vorschein - eine richtig altmodische Tastatur wie im Museum, die außer ihr niemand reparieren
kann. Natürlich gibt es an ihrem Computer wie bei jedem andern auch eine akustische Spracheingabe,
doch bietet dieses antike Ding Lacey einige Vorteile: Mehr oder weniger unbemerkt von ihren
Besuchern und ohne sie zu stören, kann sie jederzeit Daten eingeben. Immerhin, sagt sich Mulligan,
jeder, der Laceys Datenbank anzapfte, könnte dadurch reich werden. Doch unglücklicherweise hat
Lacey ihren Computer so programmiert, daß er in einer Sprache antwortet, die nur sie versteht.
Mulligan hat den Verdacht, daß sie die Sprache erfunden hat.
»Was meinst du? Ist das, was du durch mich erfährst, vielleicht ein Frühstück wert?«
»Was, bist du schon wieder pleite?«
»Ich bin immer pleite, das weißt du doch.«
»Du solltest dir mal eine vernünftige Arbeit suchen. »Geh zum Staat dein Land braucht dich\<«
»Großer Gott! Gnade ... Das hab' ich eine Zeitlang versucht. Wenn du eine Ahnung hättest, wie elend
langweilig das Gedankenlesen bei Bewerbern um einen Verwaltungsposten ist. Was für
Lebensgeschichten! Niemand, der sich für so eine Stelle interessiert, scheint irgend etwas von Belang
erlebt zu haben. Ich verstehe nicht einmal, warum sie sich die Mühe machen, Paras zu beschäftigen.«
»Vielleicht findest du es heraus, wenn du es noch einmal versuchst.«
Aber nun kann Mulligan sein schlechtes Gewissen nicht länger unterdrücken. Da sitzt er und versucht,
von Lacey zu schnorren, obwohl er sich geschworen hat, es nie wieder zu tun. Das mindeste, was er
ihr schuldet, ist, daß er ihr die Wahrheit sagt.
»Na ja, weißt du .. Ich kann nicht zurück in den Staatsdienst. Sie haben mich rausgeschmissen.«
»Ach.«
»Ja, tatsächlich. Ich habe da einfach nicht hingepaßt. Jedenfalls haben sie es so ausgedrückt, obwohl
ich ihnen irgendwie recht geben muß.«
»Ich beginne zu verstehen. Das heißt im Klartext, daß du immer zu spät kamst und dich unmöglich
aufgeführt hast, und daß du deinem Vorgesetzten patzige Antworten gegeben hast.«
»Himmel! Wenn du dieses Weib gesehen hättest, wärst du auch unfreundlich gewesen. Sie war,
verdammt, eine von diesen Esoterik-Ladys, die hauchdünne Schals tragen und Kleider mit weiten,
fliegenden Ärmeln und die sich mit einer Aura von Mysterium umgeben, während sie immerzu von
der jenseitigen Welt reden und von ihrer begnadeten Gabe -und das alles im Brustton der
Überzeugung, verstehst du?«
»Ja, das fällt mir nicht schwer.« Sie schenkt ihm ein knappes Lächeln. »Aber, zum Teufel, bei der
Flotte hatte ich eine Menge Vorgesetzte, die ich nicht ausstehen konnte. Man führt ihre Befehle aus
und ignoriert die Mistkerle, so gut es geht.«
»Bei dir war das etwas anderes, du paßt eben auch zum Militär. Aber ich habe nicht diese Disziplin.«
»Man möchte beinahe Mitleid kriegen, du armes, schwaches Bürschchen.«
»Ach hör auf! Aber wirklich, ich habe es versucht mit diesem blöden Job.«
Lacey hebt skeptisch eine Augenbraue, dann macht sie
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sich an die Arbeit. Zwar kann Mulligan die Tastatur vom Sofa aus nicht sehen, aber ihr Gesicht sagt
ihm genug: die Lippen einen Spalt geöffnet, die Augenlider gesenkt sie sieht aus, als träumte sie, von
einem fernen Geliebten vielleicht. Oder ist es einer, der überaus gegenwärtig ist, wenn sie die Tastatur
bearbeitet? Manchmal haßt er ihren Computer.
»Nicht übel«, sagt sie schließlich. »Ich werde jetzt den Chief anrufen und seine Informationen direkt
eingeben.«
»Tüchtig, tüchtig. Du bist einfach Spitze. Aber hör mal bevor ich weitertrinke, muß ich dich etwas
fragen. Sonst werd' ich's noch vergessen.«
»Dann schieß los.«
»Dieser Deserteur: War es nicht zu riskant, ihn hier aufzunehmen?«
»Du und Nunks, ihr habt ihn überprüft und gesagt, er wäre in Ordnung.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, was passiert, wenn die Allianz herausfindet, daß du ihn versteckst?
Sie werden alles versuchen, um dich in ihre Gewalt zu bekommen, das weißt du doch. Und dann? Die
Giftspritze und ab in die Recyclinganlage, kein Zweifel.«
»Ich weiß. Ich besorge ihm falsche Papiere, damit er mit einem Handelsschiff von hier wegkommen
kann.«
»Großer Gott! Das kostet ja Tausende!«
»Oh, ich kenne da Leute, die mir noch ein paar Gefälligkeiten schulden. Und, mein Lieber, stell dir
vor: Unser kleiner panchito hat es mir in seiner Unschuld schon ein halbes Dutzendmal zurückgezahlt.
Was bin ich für ihn denn? Eine Kameradin, auch wenn ich nicht mehr aktiv bin. Deshalb sitzt er gerne
hier bei mir und erzählt alles, was ihm durch sein kleines Köpfchen geht wo die Schiffe der Allianz
kreuzen, was für neue Waffen sie haben und was für spezielle Schiffsmanöver sie draußen im freien
Raum ausführen können, die er beobachten konnte. Ich kann jedes einzelne Byte gleich dreimal
verkaufen.«
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»Du lieber Himmel! Nunks und ich, wir waren einer Meinung, daß dieses Baby zu dämlich ist, um zu
lügen. Dann muß das alles stimmen, bis aufs i-Tüpfelchen!«
»Genau. Ganz sicher ist die Allianz ohne dieses Baby mit seinen bescheidenen Gaben besser dran. Die
Handelsmarine ist genau das Richtige für ihn.«
»Aber wie kam es, daß er weggelaufen ist?«
»Eine Tracht Prügel zuviel. Sein Kommandant muß ein echter Soldat gewesen sein. Als ob das eine
Art wäre, eine Flotte zu führen ... Leute mit der Prügelstrafe zu traktieren.«
»Weißt du, wenn es eines Tages wirklich knüppeldick über uns kommen sollte ich würde mich lieber
von der Konföderation als von der Allianz erobern lassen. Du nicht auch?«
»Mal den Teufel nicht an die Wand! Aber da hast du nicht ganz unrecht.«
»Na schön«, sagt Bates, »erfreulich, daß es ihm besser geht.« Aber dem Gesicht auf dem Bildschirm
ist nicht das geringste Interesse an Mulligans Gesundheitszustand anzumerken. »Mir ist der kalte
Schweiß ausgebrochen, Lacey, kannst du mir glauben. Dachte, er stirbt mir unter den Händen weg.
Hat Nunks herausgefunden, was er falsch gemacht hat?«
»Leider nein, aber er wird es noch einmal versuchen.«
»Sag mir Bescheid, wenn er etwas weiß. Es könnte wichtig sein.«
»Wird gemacht. Hasta la vista!«
Als Lacey das Gespräch beendet, hält Mulligan ihr bittend und mit einem erbarmungswürdigen
Seufzer sein Glas entgegen. Sie gießt nach und nimmt sich auch selbst etwas zu trinken. Sie steht auf,
nippt daran und sieht Mulligan zu, der den Whisky gierig wie ein durstiges Kind hinunterschüttet.
»Nunks hatte recht: Es hat einen Mord gegeben, an einem
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Carli, und du kamst dazu. Bates hat dich engagiert, um zu lesen, und irgend etwas hat deine
Schaltkreise ruiniert, und zwar gründlich.«
»Ich hasse das, wenn du so von meinem Hirn redest, als wäre ich eine Maschine. Ich bin aus Fleisch
und Blut, kein alberner Kasten mit Stromkreisen und so.«
»Ach, das Prinzip ist doch das gleiche.«
»Nein! Nie! Ich wünschte, es wäre so. Dann wäre ich nicht so ein verdammter Para.«
»Mensch, was hast du nur eine Menge Leute würden ihre rechte Hand für so ein Talent eintauschen!«
»Dann spinnen sie oder sind ganz einfach dumm. Herr im Himmel Lacey, das einzige, was ich immer
wollte, war Baseballspielen, nichts anderes.«
»Es war sicher hart für dich, mein Kleiner.«
Mulligan blickt zur Seite, Tränen in den Augen, während Lacey im stillen hofft, daß er nicht wieder
die ganze Geschichte von Anfang an erzählen wird. Manchmal, wenn er trinkt, muß er einfach darüber
reden. In der High School war Mulligan der Star der Baseballmannschaft, und jedermann dachte, daß
er nach dem Abschluß seinen Weg in eine Profi-Mannschaft machen würde. Aber dann, als die
Pubertät vorbei war und die Hormone ihre Arbeit verrichtet hatten, da lag das bisher verborgene Psi-
Talent offen zutage. Zwar versuchte er es zu verheimlichen, aber einige seiner Klassenkameraden
zeigten ihn bei der zuständigen Behörde an; er wurde aus dem Verkehr gezogen und in das staatliche
Parapsychologische Institut gebracht. Dort wurde er getestet, registriert und auf die übliche Weise mit
einem Psi markiert. Damit war jede Aussicht auf eine Karriere im Profi-Baseball zunichte. Obwohl er
absolut keine psychokinetischen Fähigkeiten besaß und keine Gefahr bestand, daß er etwa die
Flugbahn eines Balls beeinflußte, würde man ihn immer unerlaubter Methoden verdächtigen. Kein
Team des Planeten würde Geld in einen Spieler investieren, bei dem man jederzeit mit einer Sperre
rechnen mußte; ein Aufschrei
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öffentlicher Empörung, und die Offiziellen der Liga konnten gar nicht anders - so, wie es auch mit den
Androidenspielern geschehen war.
»Es ist einfach nicht fair«, sagt Mulligan fast unter Tränen. »Ich meine, selbst wenn ich die Gedanken
des Werfers lesen könnte und genau wüßte, wie er den Ball schleudern will, verdammt, dann müßte
ich ihn immer noch fangen, oder? Es ist nicht fair.«
摘要:

ScanbySchlaflosBASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCHBand24152ErsteAuflage:Februar1992FürStephenW.Dahin,woimmererjetztist.Erweißauch,warum.©Copyright1990byKatherineKerrAllrightsreservedDeutscheLizenzausgabe1992Bastei-VerlagGustavH.LübbeGmbH&Co.,BergischGladbachOriginaltitel:PolarCityBluesLektorat:ReinhardRohnTite...

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Katherine Kerr - Polar City Blues.pdf

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