TiBi Nr. 6: Kultureller/soziokultureller Kontext in PISA und anderen Large Scale Untersuchungen -
Mai 2003
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Beste Bildungspolitik oder bester Kontext für Lernen?
Über die Verantwortung von Bildungspolitik für pädagogische
Wirkungen
Helmut Fend
Die beträchtlichen Unterschiede in den Schulleistungen verschiedener Länder, die die PISA-
Studien eindrucksvoll gezeigt haben, provozieren die Frage nach den Ursachen. Vor allem
Länder, die schlecht abgeschnitten haben, stehen in einer beträchtlichen Rechtfertigungsnot.
Was liegt näher als zu fragen, wie es die guten Länder machen. Also, hinfahren und anschauen.
Oder: Einladen und beschreiben lassen. Doch wir wissen nicht erst seit der Erkenntnistheorie
von Kant, daß dies nicht so einfach ist: Anschauung ohne Begriffe ist blind, Begriffe ohne
Anschauung sind leer.
Die sozialwissenschaftliche Suche nach Ursachen würde auf empirischer Basis zu einem
Dornen reichen Weg führen, Varianzanteile verschiedener Faktoren für die Aufklärung von
Leistungsunterschieden zwischen Ländern zu suchen. Dies scheint angesichts der relativ kleinen
Zahl von Ländern und der grossen Anzahl potentiell bedeutsamer Faktoren hoffnungslos zu
sein. Die vielen beteiligten Faktoren kommen ja offensichtlich in so unterschiedlichen
Kombinationen vor, daß die Wirkung des einen Faktors durch die Bedeutung eines anderen
kompensiert oder verstärkt, werden kann. In der Summe könnten solche Analysen zum
Eindruck führen, dass für unterschiedliche Ergebnisse niemand verantwortlich ist, da die
– Anzahl der nicht entflechtbaren Wirkungsgrössen unüberschaubar gross ist,
– die entscheidenden Faktoren nicht eindeutig identifiziert werden können und die
– klar wirkungsmächtigen Einflußquellen in schulexternen Kontextfaktoren wie wirtschaftli-
cher Potenz eines Landes und kulturellem Niveau des Elternhauses zu suchen sind.
Aus diesem Dilemma gibt es einen theoretischen und einen empirischen Ausweg. Der theore-
tische besteht darin, das Bildungswesen als Handlungseinheit zu konzipieren, es als einen
kollektiven Akteur zu beschreiben. Wenn dies gelingt, dann könnte auch die Ursachenfrage eine
handlungstheoretische Wende bekommen, das Bildungswesen würde wieder in die Hände der
Akteure zurückgegeben werden, die es unterschiedlich produktiv gestalten können.
Die theoretische Grundlage zur Identifizierung nationaler Verantwortung
für das Bildungswesen
Jenseits der wechselnden Anschuldigungen in der öffentlichen Diskussion werden nämlich
folgende Ursachenkomplexe bei Ländervergleichen in den Vordergrund gerückt.
1. Länderunterschiede sind das Ergebnis nationaler Kontexte, die aus der historisch und
politisch zu erklärenden Sondersituation jedes Landes resultieren. Für Finnland ist dies die
Situation eines flächenmäßig großen, von der Einwohnerzahl her aber kleinen Landes in einer
schwierigen Randposition Europas. Historische Ereignisse haben dieses Land nur aufgrund
eines großen inneren Zusammenhaltes überlebensfähig gemacht. Sie verlangten von der
Bevölkerung immer eine außerordentliche Binnenkohäsion. Sie wird durch das Bildungswesen
mitgeprägt, das auf diesem Wege auch eine große nationale Bedeutung erfährt.
2. Mit der jeweiligen politischen Sondersituation hängt auch eine kulturelle Tradition
zusammen, in der der Stellenwert von Lernen und Bildung zum Ausdruck kommt. Sie ist in die
jeweiligen Werte, Deutungssysteme, Umgangsformen und Praktiken einer Nation eingelassen
und führt zu einer nationenspezifischen Praxis des Schulegebens. Im Bildungswesen kommt sie
darin zum Ausdruck, daß größere oder geringere Anstrengungen im Umkreis des Lernens