Tröhler: Geschichte und Sprache der Pädagogik 219
legender normativer Einstellungen, durch welche empirische oder theoretische Sach-
verhalte überhaupt erst als Probleme erkannt und andere übersehen, Lösungsstrategien
schon vorentschieden und denkbare Alternativen zum Vornherein ausgeschlossen wer-
den (vgl. Pocock 1987).
Als Exempel habe ich die dominante Strömung der deutschen Pädagogik im 20.
Jahrhundert, die geisteswissenschaftliche Pädagogik, gewählt. An ihr möchte ich zu-
nächst zeigen, wie historisch geronnene „Sprachen“ die Theoriebildung der Pädagogik
und teilweise auch die Fragestellungen empirischer Forschung in dem Sinne vor-
bestimmen, als Alternativen dazu unsichtbar bleiben. Eine solche verdeckte Alternative
stelle ich im zweiten Teil anhand des Republikanismus vor, der sich im Wesentlichen in
der Schweiz und den Vereinigten Staaten etabliert hat und der, wie gezeigt werden soll,
gerade in der amerikanischen Diskussion maßgeblich die Frage nach Demokratie be-
günstigt hat. Der Sinn dieser Ausführungen liegt im Plädoyer für die Internationalisie-
rung der Forschung, die als ein sinnvoller Weg dargestellt wird, die nationalistischen Ur-
sprünge der Pädagogik im 19. Jahrhundert zu überwinden und damit zur Qualität der
Theoriearbeit beizutragen.
1. Sprache, Geschichte und Pädagogik in Deutschland
Die „Geschichte der Pädagogik“ etablierte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts zuerst
in Deutschland und diffundierte kurze Zeit später in die westliche Welt. Verfolgt man
diese deutsche Geschichtsschreibung seit ihren ersten Anfängen, so zeigt sich eine be-
merkenswerte Stabilität bis zum heutigen Tag, die ich auf die den meisten deutschen
pädagogischen Autoren gemeinsame Sprache zurückführe. Die Analyse dieser „Ge-
schichten der Pädagogik“ kristallisiert vier Merkmale heraus. Erstens sind sie pädagogi-
scher und nicht wissenschaftlicher Natur, weil sie primär zum Zwecke moralischer Läu-
terung für die Lehrerbildung verfasst wurden. Der unvergleichliche Boom pädagogi-
scher Geschichtslehrmittel nach der Reichsgründung 18713 verweist auf das zweite, das
nationalistische Merkmal. Die Geschichtsschreibungen verzichten, und zwar weitge-
hend bis heute, für die Zeit nach Rousseau auf nicht-deutsche Autorinnen und Autoren,
mit der Ausnahme von Pestalozzi, der aber spätestens seit Fichte (1809) als deutscher
3 Es wurden innerhalb von nur zwei Jahren gleich vier verschiedene Geschichten der Pädagogik
für die Lehrerbildung, die insgesamt fünfzig Auflagen erzielten, veröffentlicht: 1871 von
Friedrich Dittes: Geschichte der Erziehung und des Unterrichts: für dt. Volksschullehrer, die
bis 1903 elfmal neu aufgelegt wurde und 1879 erst noch in französischer Sprache erschien;
1872 von Lorenz Kellner: Kurze Geschichte der Erziehung und des Unterrichtes mit verwal-
tender Rücksicht auf das Volksschulwesen, die bis 1899 elfmal neu aufgelegt wurde; 1873 von
Joseph Kehrein: Überblick der Geschichte der Erziehung und des Unterrichts: für Zöglinge
der Lehrerseminare und zur Vorbereitung auf die Allg. Bestimmungen angeordneten Prüfun-
gen, bis 1922 sechzehn mal neu aufgelegt; und im selben Jahr 1873 der absolute Bestseller un-
ter den Geschichtsschreibungen, die Geschichte der Pädagogik, in Vorbildern und Bildern
von August Schorn, die 1922 zum zweiunddreißigsten Mal neu aufgelegt wurde.