Vogt, Neuhaus, Pieper, Bierschwale & Schäffer-Trencsényi, „Inclusion or Inklusion?” – Zur Intensivierun…
2. Inklusion zwischen Agenda, Paradoxa, Theorie und Praxis
Mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen im Jahr 2009
wurde Inklusion zum verbrieften Recht an deutschen Schulen, denn [4]
[d]ie ratifizierenden Länder haben sich dazu verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu
schaffen und die notwendige Unterstützung zur Verfügung zu stellen, so dass im
Erziehungs- und Bildungssystem für alle Kinder und Jugendlichen einschließlich derjenigen
mit Behinderungen und sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen der Zugang zu
einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht gleichberechtigt mit anderen
gewährleistet ist (Lütje-Klose, Wild, Grüter & Stieber, 2023, S. 190). [5]
Damit nahm eine supranationale Organisation eine normative Setzung vor, die – aufgrund diffe-
renter nationaler bzw. lokaler Settings – in der Folge für die nationalen Kontexte übersetzt und
somit für die Praxis nutzbar gemacht werden musste. Eine, eventuell nicht intendierte, Konse-
quenz dieser normativen Setzung war – zumindest für den deutschen Kontext –, dass „die Frage
inklusiver Pädagogik und Didaktik […] von einem vormals enggeführten Spezialdiskurs zu
einem breiteren Interdiskurs über schulische Bildung“ avancierte (Schroeder, 2017, S. 255). Mit
Blick auf die Diskurse im Kontext von Inklusion kann allerdings national wie international argu-
mentiert werden, dass im Rahmen dieser Übersetzungsarbeit Missverständnisse, Abwandlun-
gen und Derivate sowie Neuschöpfungen entstanden sind. Dies zeigt sich z.B. auch in schulpä-
dagogischen und didaktischen Debatten zu Inklusion unter Wissenschaftler:innen und Prakti-
ker:innen in mehreren europäischen Ländern (Schäffer & Rabenstein, 2018). Die Uneinheit-
lichkeit des Begriffes (Löser & Werning, 2013) mag zwar für die wissenschaftliche Auseinander-
setzung mit Inklusion durchaus reizvoll sein, für Praktiker:innen vergrößert dies allerdings den
Grad an Ambiguität bei gleichzeitiger Verringerung von konkreten Handlungsempfehlungen.
Auch für die Forschung ist dieser Umstand von Belang, als dass es erziehungswissenschaft-
licher Forschung nicht ausschließlich um Erkenntnisgewinn gehen kann, „sondern, die Ziele
[von Forschung] beziehen sich auch auf die Praxis von Erziehung und Bildung bzw. die
Realisierung von Teilhabe“ (Hummrich, 2017, S. 165). [6]
Bei genauerer Betrachtung spannt sich innerhalb des Themenfeldes Inklusion also ein umfang-
reiches Spektrum an Verständnissen, Grundannahmen und – sich daraus ableitenden – Ansät-
zen auf. Damit geht auch einher, dass bis zum heutigen Tage nicht eindeutig geklärt ist, wer die
Adressat:innen von Inklusion sind bzw. sein sollen. Während in Deutschland in den 1970er und
1980er Jahren, teils unter Zuhilfenahme unterschiedlichen Vokabulars (z.B. Integration), auf
Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen fokussiert wurde, adressiert In-
klusion heutzutage in den meisten gängigen Definitionen „nicht [mehr, Anm. d. Verf.] aus-
schließlich auf die Differenzlinie der Behinderung“ (Amrhein, 2016, S. 19). Es werden „neben
behinderten Kindern und Jugendlichen dann auch solche mit anderen Benachteiligungen […]“
(Werning, 2010, S. 284) durch Inklusionsbemühungen adressiert. Im Überblick kann man folg-
lich zwischen einem ‚engen‘ Inklusionsverständnis differenzieren, das vornehmlich auf körperli-
che bzw. geistige Behinderung abzielt, und einem multiperspektivischen Zugang, der in der
Konsequenz als ‚weite‘ Variante bezeichnet wird (Löser & Werning, 2015, S. 17) – ohne, dass
hierüber im Diskurs Einheitlichkeit besteht (Vogt & Neuhaus, 2021). [7]
Die Ambiguität des Konzeptes Inklusion schlägt sich, neben der nicht eindeutig definierten Ziel-
gruppe der Bemühungen, auch in differenten Bearbeitungsansätzen nieder, wie u.a. von
Jantzen (2015) ausgeführt wird: [8]
Diese Fronten reichen von den Vorkämpfern für schulische Inklusion bis hin zur traditionellen
Sonderschulpädagogik, vom Hervorheben der Nicht-Inkludierbarkeit des Großteils der in
Heimen und Großanstalten internierten Behinderten auf Grund ihrer körperlichen und Ver-
haltensprobleme bis hin zum gänzlichen Unsichtbarmachen von Behinderung, da Behinde-
rung beim Namen zu nennen bereits als Diskriminierung erachtet wird. [9]
Neben der Diffusität des Konzeptes Inklusion hinsichtlich ihrer Adressat:innen konnte bislang
ebenso herausgearbeitet werden, dass Inklusion als wissenschaftliches Konzept bzw. Agenda